Vorstellung der unabhängigen Beschwerde- und Informationsstelle Flucht (UBIF)

von Monique Kaulertz, UBIF Bochum (unabhängige Beschwerde und Informationsstelle Flucht)


1. Beschwerdestellen für Geflüchtete

Zunächst wurde im Workshop die Bedeutung des Rechts auf wirksame Beschwerde für den Aufbau von Beschwerdestrukturen verdeutlicht. Diese werden zumeist als ein Element neben anderem im Kontext menschenrechtskonformer und menschenwürdiger Unterbringung gesehen, denn „die für die Unterbringung zuständige Behörde […] muss sicherstellen, dass die Rechte der in den Unterkünften lebenden Menschen geachtet werden. Sie ist auch dafür verantwortlich, dass das Handeln von privaten Betreibern grund- und menschenrechtlichen Standards genügt. Dazu gehört auch, dass Menschen, deren Rechte verletzt wurden, die Möglichkeit einer wirksamen Beschwerde haben. Das Recht auf wirksame Beschwerde ist unter anderem in Artikel 2 Absatz 3 des UN-Zivilpakts und Artikel 13 EMRK [Europäische Menschenrechtskonvention] verankert.“[1] Tatsächlich ist die Landschaft existierender Stellen nach wie vor mehr als übersichtlich und äußerst lückenhaft und beschränkt sich auch nach jahrelanger Arbeit verschiedener Institutionen zumeist auf Pilotprojekte. Um einen Überblick und Vergleich einiger weniger existierender Beschwerdestellen zu geben, wurden von der Referentin Monique Kaulertz von der „Unabhängigen Beschwerde- und Informationsstelle Flucht“ (UBIF) in Bochum zu Beginn des Vortrags vor allem Beschwerdestellen genannt, deren Prinzipien denen der UBIF teilweise ähneln. Die vorgestellten Beschwerdestellen waren:

  • Die Berliner unabhängige Beschwerdestelle (BuBS)[2]
  • Die Struktur der Dezentralen Beschwerdestellen der LEAs (Landeserstaufnahmeeinrichtungen) in NRW[3]
  • Die Ombudsstelle Köln – Beschwerdestelle für Flüchtlingsunterbringung[4]

Die Stellen haben mit der UBIF gemeinsam, dass sie (teilw.) unabhängig sind, sich niedrigschwellig an geflüchtete Menschen und Unterstützer*innen richten und nach eigenem Verständnis menschenrechtsorientiert arbeiten, das heißt für den Zugang zu Rechten und Teilhabe von Geflüchteten einstehen, asymmetrische Machtverhältnisse reflektieren und in Frage stellen und daher nicht rein konfliktlösend bzw. mediatorisch auftreten wollen. Zudem sind die Stellen zum großen Teil oder komplett hauptamtlich besetzt, was als wichtiges Kriterium einer kontinuierlichen und professionellen Arbeit angesehen wird. Manchmal werden in Projekten Ehrenamtliche mit dem Argument eingesetzt, dass ehrenamtliche Ombudsleute eine größere Unabhängigkeit genießen würden. Jedoch ist die UBIF der Ansicht, dass die Unabhängigkeit auf andere Weise sichergestellt sein muss als dadurch, dass Personen unentgeltlich arbeiten. Zum Dritten sind die Stellen insofern unabhängig, dass sie nicht bei Ämtern oder Behörden angesiedelt und somit keine staatlichen Stellen sind. Viertens basieren die Stellen auf (schriftlich festgehaltenen) Vereinbarungen und Verbindlichkeiten in der Zusammenarbeit mit staatlichen Akteuren, etwa bezüglich Rückmeldefristen nach Eingang von Beschwerden und regelmäßigen Austauschtreffen. Es gibt bundesweit vereinzelt weitere Ombudsstellen, z.B. die Ombudsperson beim Ministerium der Justiz und für Migration Baden-Württemberg[5], die jedoch aus Sicht der UBIF nicht unabhängig und nicht niedrigschwellig sind.


2. Genese der UBIF

Nach dem Blick auf einige bestehende Beschwerdestrukturen wurde genauer darauf eingegangen, was die UBIF auszeichnet und wie sie arbeitet. Die UBIF ist eine aus Protesten von Geflüchteten und zivilgesellschaftlichem Engagement hervorgegangene kommunale Beschwerdestelle für geflüchtete Menschen, die an der Evangelischen Hochschule RWL[6], also einer wissenschaftlichen Einrichtung, angesiedelt und für Betroffene in Bochum zuständig ist. Sie entstand, nachdem die Umsetzung eines Ratsbeschlusses zur Einrichtung einer solchen Stelle gescheitert war. Nach der Kontaktaufnahme und Vermittlung durch Engagierte der Flüchtlingsarbeit mit der EVH RWL wurde das Projekt im Rahmen eines Antrags für das „Transfernetzwerk Soziale Innovation S_inn“ in der Förderlinie „Innovative Hochschule“ gemeinsam mit anderen Teilprojekten beantragt und 2018 für eine Laufzeit von 5 Jahren bewilligt. Es basiert auf einer Kooperationsvereinbarung mit der Stadt Bochum sowie mit dem „Initiativkreis Flüchtlingsarbeit“ (einem Zusammenschluss von Initiativen und Organisationen, Ehren- und Hauptamtlichen in der Arbeit mit Geflüchteten in Bochum). Im Dezember 2022 wurde das Projekt beendet. Anträge zur Weiterförderung wurden nicht bewilligt[7].


3. Struktur und Umsetzung der UBIF

Das Ziel der UBIF ist es, die Lebensumstände und Teilhabe geflüchteter Menschen in Bochum zu verbessern. Die UBIF nimmt dazu Beschwerden von geflüchteten Menschen, ehren- und hauptamtlich in der Flüchtlingsarbeit tätigen Personen und anderen Akteuren im Themenfeld Flucht zu Problemen und Missständen entgegen, die die Rechte von geflüchteten Menschen bzw. deren Wahrung und Wahrnehmung, Lebensqualität und Teilhabemöglichkeiten beeinträchtigen und Diskriminierung begünstigen oder verursachen. Sie unterscheidet sich von anderen Stellen dadurch, dass sie nicht nur Probleme in Bezug auf Flüchtlingsunterkünfte, sondern auch Probleme in anderen Bereichen, die Geflüchtete betreffen, bearbeitet und sichtbar macht. Die UBIF agiert unabhängig und arbeitet in der Absicht, parteilich für geflüchtete Menschen existierende Machtgefälle auszugleichen und zu beeinflussen, was sie von manchen Ombudsstellen unterscheidet, die eher mediatorisch arbeiten. Sie orientiert sich mit der Aufnahme und Bearbeitung von Beschwerden an den Beratungsstandards von Antidiskriminierungstellen, d.h. Mitarbeiter*innen qualifizierten sich für ihre Arbeit u.a. durch Fortbildungen des Anti-Rassismus Informations-Centrum (ARIC- NRW e.V.), das seit 1994 besteht[8].

Die Arbeit der UBIF basiert auf drei Säulen, a) dem Beschwerdemanagement, d.h. der sozialarbeiterischen Beratungstätigkeit und Beschwerdeaufnahme bzw. -bearbeitung, b) der Social Policy Practice[9], d.h. ihren Aktivitäten als Policy-Institution bzw. der Sozialanwaltschaft als Möglichkeit der Intervention bei strukturellen Problemlagen, die über Einzelfälle hinausgehen, und c) der Forschungs- sowie Bildungstätigkeit mit dazugehörigen Schwerpunktsetzungen. Im Feld a) der Beschwerdeaufnahme werden Beschwerden auf individueller Ebene aufgenommen, dokumentiert und als Einzelfälle bearbeitet, um in Absprache mit den Betroffenen bzw. Beschwerdesteller*innen Lösungen zu finden. Weiterhin werden in Tätigkeitsfeld b) wiederkehrende und strukturelle Probleme und Missstände gesammelt und Lösungswege gesucht, die auf institutioneller sowie politischer Ebene angegangen werden. Hier wird die UBIF vermittelnd und beratend tätig bzw. auch politisch aktiv, um Probleme sichtbar zu machen, Kritik anzubringen und nachhaltige Lösungen zu fordern bzw. den Weg dorthin zu begleiten. Schließlich ist die UBIF an einer Hochschule angesiedelt und verfolgt somit auch das Ziel, im Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis Beiträge zu Wissenstransfer, Bildung und Forschung zu leisten, was dem dritten Aufgabenfeld c) entspricht. Durch die Organisation bzw. Beteiligung an Vorträgen und wissenschaftlichen Tagungen, das Verfassen von Publikationen und die Beteiligung an der Qualifikation und Sensibilisierung von Studierenden der Sozialen Arbeit wird ein Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis und ein nachhaltiges Verfügbarmachen des im Pilotprojekt generierten Wissens gewährleistet. Die drei Säulen stehen auf dem Fundament einer antirassistischen Grundhaltung[10], des Tripelmandats der Sozialen Arbeit als Menschenrechtprofession[11] und der kritischen Migrations- und Fluchtforschung[12], die sich als empowernd und emanzipatorisch versteht.

3.1. Bearbeitung von Beschwerden

Beschwerden wurden nach Entwicklung eines Konzepts sowie der Grundlagen für die operationale Umsetzung (Beschwerdebögen und Datenbank, Werbematerialen, Website etc.) im Zeitraum vom 03.06.2019 – 01.07.2022 entgegengenommen. Etwa 100 individuelle Beschwerden gingen in diesem Zeitraum bei der UBIF ein, wobei hier Sammelbeschwerden von Institutionen nicht mitgezählt werden. Kanäle waren zunächst Telefon, E-Mail, ein Messenger-Dienst, die Besuchsmöglichkeit zur offenen Sprechstunde sowie später auch ein Kontaktformular auf der Internetseite. Zudem wurden in Flüchtlingsunterkünften Flyer in 9 verschiedenen Sprachen ausgelegt und Poster aufgehängt, die auch an Multiplikator*innen weitergegeben wurden, etwa an Sozialarbeiter*innen in der Flüchtlingsberatung und Wohlfahrtverbände. Vor allem der Zugang über Telefon und Mail wurde genutzt, wobei vor der Corona-Pandemie auch häufiger die Sprechstunde aufgesucht wurde. In der Beratung konnte bei Bedarf auf einen qualifizierten Übersetzungsdienst zurückgegriffen werden. Beschwerden waren stets auch anonym möglich. Vorgehensweisen und weitere Schritte wurden mit den Beschwerdesteller*innen immer abgesprochen. Nichts wurde gegen deren Willen unternommen. Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen, wird im Gespräch geklärt und den Wünschen, Bedürfnissen und Ressourcen von Beschwerdesteller*innen in Zusammenarbeit mit diesen und gegebenenfalls beratenden anderen Organisationen (z.B. Back UP Dortmund, der Patientenberatung oder Aric NRW) angepasst. Die Dokumentation der Beschwerden erfolgte mittels eines eigens entwickelten Aufnahmesystems mit entsprechenden Dokumentationsbögen.

3.2. Beschwerdethemen

Im Workshop wurde die Frage gestellt, bezüglich welcher Themen die UBIF kontaktiert wurde. Eingehende Beschwerden bezogen sich vor allem auf die Themenfelder „Diskriminierung und Rassismus“, „Unterbringung“ und „Probleme mit Behörden“. Bei Thema „Diskriminierung und Rassismus“ waren alle möglichen Lebensbereiche wie Wohnen, Arbeit, Schule, Gesundheitssystem, Ämter und öffentlicher Raum sowie Nahverkehr betroffen. Teils ging es hier auch um gewaltsame Übergriffe. Manche Beschwerdesteller*innen waren von mehreren Dimensionen von Diskriminierung betroffen (bezüglich Herkunft, Sprache, Gender, Alter, Gesundheit, Geschlechtsidentität). Beim Thema Unterbringung ging es u.a. um das Recht, in eine Privatwohnung zu ziehen, Kontrollen und Machtdynamiken, Verletzung der Privatsphäre und des Postgeheimnisses, schlechte Internetverbindung und Ruhe für Arbeiten und Lernen, Konflikte mit Betreiber*innen und Mitbewohner*innen sowie um den Zustand der Einrichtungen im Allgemeinen, etwa der Küchen und Bäder. Zum Thema „Probleme mit Behörden“ wurden vor allem lange Wartezeiten, verlorene Dokumente, fehlende Rückmeldungen oder Kontaktmöglichkeiten sowie wiederholt eingeforderte Papiere und widersprüchliche Informationsweitergaben beanstandet, wobei vor allem die Ausländerbehörde und das Einwohneramt bis heute eklatante Bearbeitungsrückstände und Missstände aufweisen. Es wurde bemängelt, dass Handlungsspielräume zur Aufenthaltsgewährung seitens Behördenmitarbeiter*innen nicht genutzt würden – etwa leben in Bochum über 400 Personen seit über 5 Jahren mit einer Duldung.

3.3. Social Policy Practice

Neben der individuellen Bearbeitung von Beschwerden und der Suche nach Lösungen für den Einzelfall legte die UBIF einen großen Schwerpunkt auf die Bearbeitung von Missständen auf struktureller Ebene mittels sogenannter „Social Policy Practice“. Burzlaff & Eifler zitieren Weiß-Gal & Gal, die „Policy Practice“ als „sozialarbeiterische Interventionen“ bezeichnen, „die einen integralen Bestandteil des professionellen Handelns ausmachen und verschiedenste Felder Sozialer­ Arbeit betreffen. Diese Interventionen zielen nicht nur darauf ab, auf organisationaler, lokaler, nationaler oder internationaler Ebene neue Politiken, die den Werten Sozialer Arbeit entsprechen, zu formulieren oder zu implementieren, sondern auch darauf, bereits existierende (Sozial-)Politiken zu verbessern“.[13] Wobei Soziale Arbeit als immer schon politische Tätigkeit betrachtet wird, denn Politiken und Gesetzgebungen können die Situation von Adressat*innen der Sozialen Arbeit zum Positiven oder Schlechteren verändern.

Themen, die unter dem Stichwort „Social Policy Practice“ bearbeitet wurden, waren bei der UBIF „Unterbringung“, „Bleiberechtsmanagement“, „Ausländerbüro“ und „Antidiskriminierungsarbeit“.  Beim Thema „Unterbringung“ wurden rechtliche Standards zur Unterbringung geprüft und darauf basierend eine Stellungnahme verfasst. Die darin enthaltenen Kritikpunkte wurden mit der Stadt verhandelt und Veränderungen in Bezug auf Privatsphäre, Postzugang, Gewaltschutz, Belegung, Infrastruktur sowie Regelungen zur Privatwohnungsnahme gefordert. Auch hat sich die UBIF in einer Arbeitsgruppe gemeinsam mit dem „Initiativkreis Flüchtlingsarbeit“ für die Einrichtung eines „Bleiberechtsmanagements“[14] zur Abschaffung von Kettenduldungen eingesetzt und dazu eine Stellungnahme erarbeitet, die in einem städtischen Gremium vorgestellt wurde. Die Einrichtung eines Bleiberechtsmanagements wurde zwar begonnen, allerdings wieder ausgesetzt, als vermehrt Menschen aus der Ukraine in Bochum ankamen. Auch setzt sich die UBIF in einer Vielzahl an Gesprächen für die Umstrukturierung der Bochumer Ausländerbehörde ein und diskutierte mit Mitarbeiter*innen des Sozialamts auf Basis einer Stellungnahme die Verletzung von Menschenrechtsstandards in den Unterkünften. Schließlich forderte die UBIF den Aufbau einer kommunalen Antidiskriminierungsstelle, für die sie erste Eckpunkte eines Konzepts erarbeitete. Dieses Vorhaben wird von dem migrantischen Verein Bonem e.V. 2023 realisiert.


4. Bedingungen für den Aufbau von Beschwerdestrukturen

Im Workshop wurden auch Standards zum Aufbau von Beschwerdestrukturen diskutiert, die im Folgenden geordnet dargestellt werden. Standards zum Aufbau von Beschwerdestrukturen finden sich neben einigen wissenschaftlichen Publikationen vor allem bei Marianne Wegenast und Gloria Goldner[15]. Beide Publikationen entstanden basierend auf parallel laufenden Pilotprojekten, so dass sie inhaltlich fast identisch sind. Darin werden sechs grundlegende Handlungsfelder genannt, „die die Funktionsfähigkeit eines Beschwerdeverfahrens beeinflussen und die möglichst gleichzeitig in den Blick genommen werden sollten“[16] bzw. als Bemessungskriterien zum möglichen Erfolg eines Beschwerdemanagements dienen können: 1. Beschwerdestelle, 2. Vertrauen der Bewohner*innen in das Instrument, 3. Qualität, Wirksamkeit und Kontinuität, 4. Kostenfaktor, 5. Vertrauen der Mitarbeiter*innen in das Instrument sowie 6. Unabhängigkeit[17]. Im Workshop wurde auf die Handlungsfelder nicht näher eingegangen und stattdessen auf das umfassende Material verwiesen, dass in den Handreichungen zum Aufbau von Beschwerdestrukturen zu finden ist[18]. Seitens der UBIF werden Schwerpunkte etwas anders gesetzt und folgende Punkte als wichtige Elemente funktionierender Beschwerdestrukturen hervorgehoben:

Positioniertheit

Eine klar kommunizierte Haltung, die unabhängig von den Wünschen politischer Parteien entwickelt und kommuniziert wird, hilft der Etablierung einer Kritiker*innenposition. Eine Orientierung an Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit, Tripelmandat der sozialen Arbeit, antirassistischer sowie parteilicher Grundhaltung und Grundsätzen der Antidiskriminierungsarbeit sind dafür unabdinglich. Asymmetrische Verhältnisse werden reflektiert und bearbeitet und zum Grundsatz einer parteilichen Arbeit. Policy Practice ergänzt ein reines Beschwerdemanagement.

Vernetzung

Mitarbeiter*innen in Beschwerdestellen sollten nicht allein arbeiten müssen, sondern in ein parteilich arbeitendes Empowerment-Netzwerk eingebunden sein. Isolation der Akteure macht sie angreifbar und exkludierbar Gegebenenfalls kooperieren sie arbeitsteilig mit anderen Stellen, etwa Flüchtlingsräten, AD-Verbänden, Opferberatungsstellen und Antwält*innen, um ihre Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Dies bezieht sich sowohl auf Handlungsmöglichkeiten bei der Bearbeitung von Einzelfällen (vgl. AD-Arbeit) als auch auf solche im Rahmen von Social Policy Practice und Lobbyarbeit.

Interventionen

Beschwerdestellen verfügen über einen umfangreichen „Methodenkoffer“ an Interventionsmethoden und schöpfen diese mit der nötigen Sensibilität aus. Auch ungewöhnliche bzw. weniger bekannte Handlungsformen sollten bewusst als Repertoire von Sozialarbeiter*innen diskutiert und legitimiert werden, darunter Wistleblowing, strategische Klagen, Pressearbeit etc.. Dies dient dazu, im Falle langjähriger erfolgloser Beschwerden handlungsfähig zu bleiben.

Öffentlichkeit und Tranzparenz

Die Stellen verfügen über eine zugängliche Internetseite und namentlich genannte Ansprechpartner*innen. Sie erstellen regelmäßig öffentlich, möglichst barrierefrei und für Zivilpersonen leicht auffindbare schriftliche Berichte zu ihrer Arbeit. Dies dient dazu, Wissen über Missstände bei der Versorgung geflüchteter Menschen sichtbar und strukturell erfassbar zu machen und zu verhindern, dass die Beschwerdestellen als Instrument der Unsichtbarmachung von bestehenden Problemen bei Zugang zu Rechten und teilhabe von Geflüchteten genutzt werden. Auch dienen öffentliche Berichte dem Wissenstransfer von Beschwerdestrukturen und der Unterstützung des Aufbaus weiterer Stellen an anderen Orten sowie der Wegbereitung für eine produktive Auseinandersetzung mit Träger*innen und Strukturen des „Flüchtlingsmanagements“.

Partizipation

Sowohl in Berlin als auch in Bochum sind die Beschwerdestrukturen nicht zuletzt aufgrund von Protest und Engagement von Geflüchteten entstanden. Die Selbstorganisation von geflüchteten Menschen sollte demnach gefördert werden, etwa durch die Einrichtung von Bewohnerräten und die Ernennung von Beschwerdelost*innen oder auch die diverse Zusammensetzung eines Beirats unter Beteiligung geflüchteter Personen.

Unabhängigkeit

Für das Vertrauen von Betroffenen in das Instrument ist die Bedeutung von Unabhängigkeit kaum zu überschätzen. Die Stellen sind bei Flüchtlingsräten, Antidiskriminierungsstellen oder anderen weisungsunabhängigen Stellen angesiedelt. Bei Finanzierung durch staatliche Mittel ist sicherzustellen, dass das Beschwerdesystem keine negativen Konsequenzen aus ihrer Menschenrechtsarbeit zu fürchten hat. Staatliche Stellen oder solche von Einrichtungsträger*innen können stets nur eine Ergänzung zu unabhängigen Stellen darstellen

Niedrigschwelligkeit

Wichtig ist die Bereitstellung mehrsprachiger Angebote und ein diverses, diskriminierungssensibles und multiethnisches Team. Diese sollten nicht nur auf einer „Komm-Struktur“ basieren, sondern selbst Orte aufsuchen, an denen Geflüchtete anzutreffen sind. Hierfür sollten Beschwerdemanager*innen mit ihren Gesichtern und Kontaktdaten bekannt sein, wohingegen Beschwerdesteller*innen Anonymität möglich sein muss. Das Angebot muss wiederkehrend bekannt gemacht werden, da Zu- und Wegzug von Geflüchteten vorkommen und sich beispielsweise die Belegung von Wohnungen ändern kann.

Kooperation und Befugnisse

Es braucht verbindliche Vereinbarungen zur Kooperationsbereitschaft seitens Politik und Verwaltung, Zugänge zu Unterkünften sowie regelmäßige Austauschtreffen, um die Beschwerden und Missstände gebündelt vortragen zu können.  Bei diesen Austauschtreffen sollte klar sein, dass es darum geht, Kritik vorzubringen. Dazu gehört es, eine Fehlerkultur zu etablieren, die es möglich macht, konstruktiv über Missstände zu sprechen. Es sollte verhindert werden, dass Beschwerdefälle als „Einzelfälle“ deklariert, Personen der Glauben abgesprochen oder Anliegen bagatellisiert werden.


5. Zum Aufbau von Beschwerdestrukturen

Im Austausch mit den Teilnehmer*innen des Workshops wurde eingehend über Schritte gesprochen, die der tatsächlichen Umsetzung einer Beschwerdestruktur vorausgehen und bei Interesse zur Errichtung einer Beschwerdestelle ausgelotet werden können. Die Punkte, die für den Aufbau einer Beschwerdestelle wichtig sind, werden im Folgenden zusammengefasst. Zum einen sollte eine Suche nach Unterstützer*innen in Zivilgesellschaft und Politik begonnen werden, die sich erste Gedanken zu Aufbau und Struktur einer Stelle machen und bereit sind, sich in einem Gründungsprozess zu engagieren. Ggf. kann von Interessierten eine Arbeitsgemeinschaft geründet und ein erstes Konzeptpapier verfasst werden. Zu überlegen ist, ob es eine kommunale oder Landesstruktur geben soll und ob diese nur für Unterkünfte oder auch andere Beschwerdebereiche zuständig sein soll, die Geflüchtete betreffen. Dann gilt es, mögliche Träger*innen für eine unabhängige Beschwerdestelle zu finden. Evtl. gibt es bereits Stellen, die entsprechende Infrastruktur, Netzwerke und Know-How haben und die Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten haben. Da es meist keine eigens für Beschwerdestellen geschaffenen öffentlichen Mittel gibt, gilt es, Quellen für ein Pilotprojekt, besser aber eine langfristige Finanzierung, auszuloten. Dabei sollten aus Sicht der UBIF wenn möglich auch staatliche, landes- oder kommunale Geldgeber in Verantwortung gezogen werden, da über diese oftmals eine langfristigere, nachhaltigere Förderung möglich ist.

Monique Kaulertz

Dieser Artikel gehört zum Workshop 2-F des Fachtages “Soziale Ausschließung, Widerständigkeiten und die Rolle der Geflüchtetensozialarbeit” (2022):

Beschwerdemanagement im Kontext sächsischer Unterbringungspraxen – zur (Nicht-)Umsetzung eines Menschenrechts?

Diesen Artikel finden Sie in der Dokumentation des Fachtages:

“Soziale Ausschließung, Widerständigkeiten und die Rolle der Geflüchtetensozialarbeit” (2022)

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[1]  Siehe Deutsches Institut für Menschenrechte (2017), S. 57, zitiert von FHK S. 10.

[2]  BUBS – Berliner unabhängige Beschwerdestelle 2022.

[3]  Diakonie RWL 2019.

[4]  Bureiasi 2023.

[5]  Baden-Württemberg o.J.

[6]  Rheinland Westfalen Lippe.

[7]  Nachtrag: Es wird allerdings 2023 in Bochum eine Stelle für community-basierte rassismuskritische Beratung bei der MSO Bonem e.V. eingerichtet, was auch eines der Verstetigungs-Ziele der UBIF war.

[8]  Home – ARIC NRW e.V 2023.

[9]  Siehe 3.3

[10]  DBSH-Fachbereich Migration und Flucht 30.11.2020; Textor, M., Anlaş, T. 2018; DO MAR CASTRO VARELA, Maria 2018. 

[11]  Pasad 2019.

[12]  Dazu Mecheril 2013a, 2013b.

[13]  Burzlaff und Eifler 2018, S. 224 Übersetzung aus dem Englischen durch Burzlaff und Eifler.

[14]  Ein Vorbild war das Projekt „Wege ins Bleiberecht: Eine beispielhafte Initiative für Langzeitgeduldete – Flüchtlingsrat Niedersachsen 2023.

[15]  Wegenast 2018; Goldner 2019.

[16]  Firnges, Christiane: „Beschwerdeverfahren für geflüchtete Menschen in Unterkünften im Kontext von Gewaltschutz“, BZgA Infodienste unter: https://infodienst.bzga.de/migration-flucht-und-gesundheit/im-fokus-gefluechtete/v/beschwerdeverfahren-fuer-gefluechtete-menschen-in-unterkuenften-im-kontext-von-gewaltschutz/ , zuletzt 11.12.2022.

[17]  vgl. Wegenast 2018, S. 6.

[18]  Beschwerdemanagement – Frauenhauskoordinierung 2023 Zum Aufbau von Beschwerdestrukturen bietet Gloria Goldner auch Coaching und Workshops an, vgl.  Goldner Beratung & Coaching 2023.


Quellenverzeichnis

  • Baden-Württemberg, Justizministerium (o.J.): Ombudsperson für Flüchtlingserstaufnahme. Online verfügbar unter https://www.justiz-bw.de/,Lde/Startseite/Auslaender+und+Fluechtlingspolitik/Ombudsperson+fuer+Fluechtlingserstaufnahme, zuletzt aktualisiert am 26.01.2023, zuletzt geprüft am 26.01.2023.
  • Beschwerdemanagement – Frauenhauskoordinierung (2023). Online verfügbar unter https://www.frauenhauskoordinierung.de/arbeitsfelder/flucht-und-gewaltschutz/projekte/beschwerdemanagement, zuletzt aktualisiert am 26.01.2023, zuletzt geprüft am 26.01.2023.
  • BUBS – Berliner unabhängige Beschwerdestelle (2022). Online verfügbar unter https://www.bubs.berlin/, zuletzt aktualisiert am 18.11.2022, zuletzt geprüft am 26.01.2023.
  • Bureiasi, Karim El (2023): Ombudsstelle Köln | Beschwerdestelle Flüchtlingsunterbringung. Online verfügbar unter https://www.ombudsstelle.koeln/, zuletzt aktualisiert am 26.01.2023, zuletzt geprüft am 26.01.2023.
  • Burzlaff, M.; Eifler, N. (2018): Kritische Intervention. In: SozA 67 (6), S. 223–228. DOI: 10.5771/0490-1606-2018-6-223.
  • Diakonie RWL (2019): Dezentrale Beschwerdestellen für Flüchtlinge – NRW. Online verfügbar unter https://www.diakonie-rwl.de/themen/flucht-migration-integration/dezentrale-beschwerdestellen-fluechtlinge-nrw, zuletzt aktualisiert am 26.10.2022, zuletzt geprüft am 26.01.2023.
  • Do Mar Castro Varela, M. (2018): Das Leiden der Anderen betrachten. Flucht, Solidarität und Postkoloniale Soziale Arbeit. In: BRÖSE, Johanna / FAAS, Stefan / STAUBER, Barbara (Hg.): Flucht. Herausforderungen für Soziale Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 3–20.
  • Goldner, G. (2019): Beschwerdeverfahren für geflüchtete Menschen in Unterkünften. Empfehlungen und Material zur Umsetzung. Hg. v. Frauenhauskoordinierung e. V. (FHK). Berlin. Online verfügbar unter https://www.frauenhauskoordinierung.de/arbeitsfelder/flucht-und-gewaltschutz/projekte/beschwerdemanagement, zuletzt geprüft am 26.01.2023.
  • Home – ARIC NRW e.V (2023). Online verfügbar unter https://www.aric-nrw.de/, zuletzt aktualisiert am 26.01.2023, zuletzt geprüft am 26.01.2023.
  • Mecheril, P. (2013a): Migrationsforschung als Kritik? Konturen einer Forschungsperspektive. Unter Mitarbeit von Oscar Thomas-Olalde, Claus Melter, Susanne Arens und Elisabeth Romaner. 1st ed. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. Online verfügbar unter https://ebookcentral.proquest.com/lib/kxp/detail.action?docID=1398676.
  • Mecheril, P. (2013b): Migrationsforschung als Kritik? Spielräume kritischer Migrationsforschung. Unter Mitarbeit von Oscar Thomas-Olalde, Claus Melter, Susanne Arens und Elisabeth Romaner. 1st ed. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. Online verfügbar unter https://ebookcentral.proquest.com/lib/kxp/detail.action?docID=1398675.
  • Prasad, N. (2019): Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession im Kontext von Flucht. In: Barbara Thiessen, Clemens Dannenbeck und Mechthild Wolff (Hg.): Sozialer Wandel und Kohäsion. Ambivalente Veränderungsdynamiken. 1. Auflage 2019. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden (Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung), S. 181–199.
  • Textor, M., Anlaş, T. (2018): Rassismuskritische Soziale Arbeit. In: Beate Blank, Süleyman Gögercin, Karin E. Sauer und Barbara Schramkowski (Hg.): Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Grundlagen – Konzepte – Handlungsfelder. 1. Auflage 2018. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 315–324.
  • Wege ins Bleiberecht: Eine beispielhafte Initiative für Langzeitgeduldete – Flüchtlingsrat Niedersachsen (2023). Online verfügbar unter https://www.nds-fluerat.org/43768/aktuelles/wege-ins-bleiberecht-eine-beispielhafte-initiative-fuer-langzeitgeduldete/, zuletzt aktualisiert am 26.01.2023, zuletzt geprüft am 26.01.2023.
  • Wegenast, M. (2018): Beschwerdemanagement für geflüchtete Menschen in Unterkünften etablieren. Konzept, Materialien, Empfehlungen zur Umsetzung. Hg. v. Diakonisches Werk Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz e. V. Berlin.
Workshop 2-D des Fachtages „Soziale Ausschließung, Widerständigkeiten“
Monique Kaulertz, UBIF Bochum (unabhängige Beschwerde und Informationsstelle Flucht)

Fotos: Guillaume Robin / LaFaSt


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