Befragung zur Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen 2020
Im Jahr 2017 haben wir vor dem Hintergrund des damals noch recht undeutlich konturierten Arbeitsbereiches der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen eine landesweite standardisierte Befragung durchgeführt, deren Ziel es war, erste belastbare Daten zur Praxis und zur Situation der Flüchtlingssozialarbeit zu generieren. Damit konnte eine erste Momentaufnahme zu den Arbeits- und Rahmenbedingungen sowie Aufgaben und Erfahrungen in einem weitgehend unerforschten Handlungsfeld gezeichnet werden, das sich als wahrnehmbares Feld seit 2015 gerade erst neu konstituiert hatte, wenn auch – der Not gehorchend – in ungeheurer Geschwindigkeit und in einer teilweise unüberschaubaren Vielfalt und anfänglich recht chaotischen Struktur.
Drei Jahre später konnten wir nun diese Befragung wiederholen. Dabei zeigen sich einige eher moderate Veränderungstendenzen, im Großen und Ganzen jedoch durchaus auch eine Kontinuität in vielen Bereiche. Beides, Veränderung wie auch Kontinuität, kann je nach Fragestellung als gutes wie auch als schlechtes Ergebnis gewertet werden.
Der Versuch, belastbare quantitative Daten zu diesem immer noch diffusen Feld zu generieren, sieht sich weiterhin mit der Herausforderung einer unbekannten und sich in ständiger Veränderung begriffenen Grundgesamtheit konfrontiert. Eine im statistischen Sinn repräsentative Befragung, in der von einer Stichprobe auf eine klar definierte Grundgesamtheit geschlossen werden kann, ist unter diesen Bedingungen nicht möglich.
Aufgrund der Tatsache, dass die zu befragende Gruppe der in der Sozialarbeit mit bzw. der sozialen Betreuung von geflüchteten Menschen tätigen Personen nicht vollständig bekannt war, konnte hier nicht der in repräsentativen Befragungen übliche Weg einer Zufallsauswahl aus einer klar definierten Grundgesamtheit gegangen werden. Auch eine sog. Vollerhebung war nicht möglich, da hierzu eine vollständige Liste der zu Befragenden notwendig gewesen wäre.
Um dennoch ein möglichst vollständiges und umfassendes Bild zu erhalten, wurde der Weg gewählt, über eine Recherche der in der FSA tätigen Träger möglichst viele der potenziell zu Befragenden zu erreichen. Ergänzt wurde diese Methode durch weitere Recherchewege, so etwa über online zugängliche Quellen und über persönliche Kontakte.
In der Folge sind unsere Ergebnisse nicht repräsentativ für alle als „Flüchtlings- oder Migrationssozialarbeiter*innen“ oder als „Soziale Betreuer*innen“ geflüchteter Menschen etc. Beschäftigten. Wir können aber davon ausgehen, dass unsere Daten tendenziell durchaus die Verhältnisse in der Flüchtlingssozialarbeit1 widerspiegeln. Die letztlich mit der Befragung erreichten 155 Personen bilden in Bezug auf deren soziodemografische Merkmale das Spektrum der in diesem Arbeitsfeld Beschäftigten nach allen uns vorliegenden Erkenntnissen durchaus gut ab.
Die Befragung fand in den Monaten Oktober und November 2020 online statt. Mit einem Rücklauf von 155 verwertbaren Fragebögen2 haben wir etwas mehr Personen erreicht als bei der Befragung 2017, zu der 130 Befragte geantwortet hatten.
Nach unseren – aufgrund der schwierigen Datenlage immer nur annäherungsweise genauen – Berechnungen anhand der vorliegenden Daten aus den Landkreisen und kreisfreien Städten dürften zum Zeitpunkt der Befragung in Sachsen ungefähr 330 Personen – in unterschiedlichen Funktionen und mit unterschiedlichen Qualifikationen – in dem Handlungsfeld beschäftigt gewesen sein, was bei einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von knapp 33 Stunden etwa 270 Vollzeitäquivalenten entsprechen dürfte.
Somit müssten wir knapp die Hälfte (47%) der geschätzten Grundgesamtheit derjenigen Beschäftigten erreicht haben, die zum Zeitpunkt der Befragung hauptamtlich in der Arbeit mit geflüchteten Menschen in Sachsen tätig sind – eine für vergleichbare Erhebungen durchaus sehr gute Quote.
Der folgende Überblick beschreibt – meist unkommentiert – einige ausgewählte Ergebnisse der Wiederholungsbefragung von 2020, die regelmäßig den Ergebnissen der Befragung von 2017 gegenübergestellt werden.
1. Überblick über die Stichprobe
72% (2017: 76%) der Befragten sind weiblich, 27% (2017: 24%) männlich, 1,5% geben ein anders Geschlecht an3. Damit bildet sich die weibliche Dominanz in sozialen Berufen erwartungsgemäß auch weiterhin in unserer Befragung ab; um aus den Veränderungen zu 2017 eine generelle Tendenz zu mehr männlichen Mitarbeitern in der FSA abzuleiten, dazu sind die Unterschiede zu gering.
Das Durchschnittsalter der in der Flüchtlingssozialarbeit beschäftigten Befragten beträgt 38 Jahre, dieser Wert entspricht exakt dem Mittelwert von 2017. Etwa ein Drittel der Befragten ist bis 1980 geboren – also älter als 40 Jahre, ein weiteres Drittel ist zwischen 1981 und 1989 geboren. Das restliche Drittel hat bereits nach dem Ende der DDR das Licht der Welt erblickt; das jüngste angegebene Geburtsjahr ist 1997.
Die große Mehrheit unserer Befragten ist bei freien Trägern angestellt, nur 9 Personen (6%) arbeiten für privat-gewerbliche Arbeitgeber (vgl. Abb. 1).
Ordnet man die Stichprobe verschiedenen Ortsklassen (von Großstadt bis Dorf/ländliche Region) zu, so fällt auf, dass im Vergleich zu 2017 nun deutlich mehr Befragte in Großstädten arbeiten, alle anderen Ortsgrößen hingegen deutlich seltener genannt werden. Daraus lässt sich durchaus eine Tendenz zu einer Verlagerung der Arbeitsplätze (und damit der Unterbringung Geflüchteter) weg vom Land und hin zur Großstadt ablesen.
Da sich knapp 30% der Befragten mehreren Ortsklassen zuordnen, ergibt die Summe der Antworten über 100% (vgl. Abb. 2).
2. Qualifikationen und Arbeitsverhältnisse
Wie oben bereits erwähnt, richtete sich die Befragung an alle hauptamtlich Beschäftigten, die mit geflüchteten Menschen arbeiten. Das sind nicht nur „Flüchtlingssozialarbeiter*innen“ im engeren Sinne. Die Antworten auf die Frage „Wie lautet die konkrete Bezeichnung Ihrer Tätigkeit mit geflüchteten Menschen?“ zeigen, dass hier nicht nur eine Vielzahl an unterschiedlichen Tätigkeiten existiert, sondern dass offenbar auch die Bezeichnungen für diese Tätigkeiten sehr stark variieren.
Von den 125 Befragten, die hier geantwortet haben, geben 58 eine Tätigkeitsbezeichnung an, die sich aus den Begriffen „Flüchtlingssozialarbeit“, „Sozialarbeit“ oder – eine in letzter Zeit häufiger zu findende Bezeichnung – „Migrationssozialarbeit“ ableitet. 23 Antworten beziehen sich primär auf den Beratungsbegriff (darunter wurden unter anderem auch die Bezeichnungen „Asylverfahrensberatung“, „Psychosoziale Beratung“, „Flüchtlingssozialberatung“, aber auch „Rückkehr- und Perspektivenberatung“ subsumiert). Auf den Betreuungsbegriff fokussieren weitere 18 Antworten (meist als „Sozialbetreuung“ o.ä.), die Koordinationsfunktion bildet für neun Befragte den Kern ihrer Tätigkeitsbezeichnung (darunter auch regionale oder kommunale „Integrationskoordinator*innen“). Während noch sieben weitere Befragte verschiedene Leitungsfunktionen angeben, lassen sich 10 weitere Antworten keiner anderen Gruppe zuordnen (bspw. „Referent Flüchtlingshilfe“, „Fachkraft für Migration“, aber auch drei „Arbeitsmarktmentor*innen“.)
Die Begriffsvielfalt belegt die Vielfältigkeit der Tätigkeiten, zeigt aber auch, dass es bislang nicht gelungen ist, etwa für identische Tätigkeitsprofile auch einheitliche Bezeichnungen zu finden. Dies erschwert weiterhin auch die Kommunikation über das Tätigkeitsfeld, da häufig gleiches unterschiedlich und wohl auch unterschiedliches gleich benannt wird.
Auch die beruflichen Ausbildungsabschlüsse der Befragten lassen eine gewisse Vielfalt erkennen (vgl. Abb. 3) und belegen den großen Anteil der Quereinsteiger*innen. Immerhin stellen die Beschäftigten mit einem einschlägigen Studienabschluss in der Sozialen Arbeit bzw. Sozialpädagogik nunmehr die größte Gruppe, was einen leichten Trend zu höher bzw. adäquater qualifizierten Beschäftigten im Tätigkeitsfeld der FSA/MSA andeutet. Dennoch verfügen zusammen nur 56% der Befragten über einen einschlägigen Abschluss im sozialen Bereich. Der große Anteil nicht-sozialer Qualifikationen legt nach wie vor die Frage nahe, über welche spezifischen Qualifikationen die mit Geflüchteten arbeitenden Beschäftigten eigentlich verfügen. Das Thema der Anerkennung bzw. Weiterqualifizierung der Quereinsteiger*innen wird also auf absehbare Zeit erhalten bleiben.
23% (2020) haben mehr als einen Abschluss, weshalb die Summe der Prozentanteile auch hier wieder mehr als 100% ergibt (vgl. Abbildung 3).
Ein leicht positiver Trend lässt sich auch hinsichtlich des etwas geringeren Anteils befristeter Arbeitsverträge feststellen: So steigt der Anteil unbefristeter Beschäftigungen von 31,5% auf 37,5% (vgl. Abb. 4).
Hier liegen übrigens die öffentlichen weiterhin deutlich vor den freien Trägern: Bei den öffentlichen Trägern sind 2020 schon 47% der Arbeitsverträge unbefristet (2017: 36%); bei den freien liegt dieser Anteil gerade einmal bei 30% (2017: 26%). Bei den privaten Trägern sind nur 11% der Befragten befristet angestellt, dieser Wert basiert allerdings nur auf neun Befragten, die bei Privaten angestellt sind, ist also nur sehr bedingt aussagefähig.
3. Einschätzung der Arbeitsbedingungen
Wir haben die Beschäftigten gebeten, einige zentrale Aspekte ihres Arbeitsverhältnisses – jeweils auf einer Skala von 1 (= „trifft zu“) bis 4 (= „trifft nicht zu“) einzuschätzen. Die folgende Abbildung (Abb. 5) zeigt, dass weiterhin der Freiraum bei der eigenen Arbeit am positivsten eingeschätzt wird. So stimmen zusammen 89% der Befragten der Aussage „Ich habe genügend Freiraum in meiner Arbeit“ zu oder eher zu (2017: 90%). Die Unterstützung durch die eigene Leitung und die Fortbildungsmöglichkeiten werden ebenso weit überwiegend positiv eingeschätzt. Dies deutet 2017 wie 2020 darauf hin, dass bei den Trägern insgesamt ein durchaus stimmiges Arbeitsklima herrscht. Allerdings ist der Anteil derer, die die Fortbildungsmöglichkeiten (eher) kritisch sehen von 22% (2017) auf 28% (2020) angestiegen. Auch in Bezug auf eine gute Sachausstattung der Arbeitsplätze ist der Anteil derer, die das kritisch sehen („trifft nicht zu“ und „trifft eher nicht zu“) von 25% auf 35% angestiegen.
Erfreulich erscheint hingegen, dass sich die Einschätzung der Bezahlung doch deutlich verbessert hat: So stimmen mittlerweile 69% der Aussage, die Vergütung sei gut, zu bzw. eher zu (2017: 60%).
Andererseits ist die Zeit für Dokumentationen und Berichte offenbar tendenziell knapper geworden. Das Schlusslicht unter den vorgelegten Kriterien zu den Arbeitsbedingungen bilden wie schon 2017 die Betreuungsschlüssel: Für 56% trifft die Aussage „Der Betreuungsschlüssel ist völlig angemessen“ nicht oder eher nicht zu; 2017 waren das 54%. In dieser Hinsicht gibt es also in den letzten drei Jahren aus der Sicht der Beschäftigten keinerlei Tendenz zu einer Verbesserung.
Vergleicht man diese Einschätzungen nach den unterschiedlichen Trägertypen nach entsprechenden Mittelwerten, so schneiden die öffentlichen Träger in der Summe bei allen Kriterien – außer bei den Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten und dem Freiraum bei der Arbeit – besser ab als die frei-gemeinnützigen Träger. Die Bestwerte für die privat-gewerblichen Träger bei vier der vorgelegten Items mögen eine Tendenz ausdrücken, sind aber aufgrund der sehr niedrigen Fallzahlen (N = 9) nur mit großer Vorsicht zu interpretieren.
4. Aufgaben der FSA
Der Online-Fragebogen enthielt eine längere Liste mit unterschiedlichen Aufgaben innerhalb des Handlungsfeldes der Flüchtlingssozialarbeit. Damit soll ein grobes Aufgabenprofil entstehen, das zumindest Aussagen darüber zulässt, welche Aufgaben bzw. Tätigkeiten von der Häufigkeit des faktischen Vorkommens her zu den Kernaufgaben in der Arbeit mit geflüchteten Menschen gezählt werden können.
Die Befragten konnten auf einer 5er-Skala von 1 (= sehr häufig/immer“) bis 5 (= sehr selten/nie“) zuordnen, welche Aufgaben in der Praxis wie häufig anfallen.
Wie die Abb. 7 zeigt, ist die „Kooperation mit Ämtern und Behörden“ die häufigste regelmäßige Aufgabe; 88% der Befragten sind „sehr häufig/immer“ oder „eher häufig“ damit beschäftigt. Auch die „Unterstützung der Klient*innen bei Behördengängen“ sowie „allgemeine soziale Hilfestellung und Beratung“ sind Kernaufgaben, die von 85% bzw. 84% „immer“ bis „eher häufig“ anfallen.
Eine gewisse Polarisierung zeigt sich bei zwei in der Praxis recht umstrittenen Aufgabenbereichen: Kontrollfunktionen, die in der Sozialen Arbeit nach weitgehender Übereinstimmung der Profession keinen Platz haben, werden von 41% der befragten Praxisakteure dennoch häufig oder eher häufig übernommen, zugleich aber von 43% eher selten bis nie. Das Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle reproduziert sich in der Flüchtlingssozialarbeit in der häufig gegensätzlichen Aufgabenzuschreibung freier und öffentlicher Träger.
Eine solche Polarisierung des Feldes lässt sich auch bei der „Übernahme allgemeiner Verwaltungsaufgaben…“ feststellen, die von 57% der Befragten eher selten bis nie übernommen werden, die andererseits aber für 30% zu den sehr häufigen oder eher häufigen Aufgaben gehören.
Schließlich mag es dem Bild vom gesellschaftlich engagierten Sozialarbeiter einen gewissen Abbruch tun, dass der „Einsatz für bessere Rahmenbedingungen“ ziemlich weit am Ende der Liste der wahrgenommenen Aufgaben steht. Nur für 23% der Befragten gehört dieser Einsatz im Sinne eines „politischen Mandats“ der sozialen Arbeit zu den (eher) häufig wahrgenommenen Aufgaben.
Da sich diese Befragung auf Praxisakteure mit sehr unterschiedlichen Qualifikationen bzw. Funktionen bezieht, mag hier eine genauere Analyse Anhaltspunkte dafür liefern, inwieweit solche (und andere) umstrittene Aufgaben von bestimmten Teilgruppen der Beschäftigten (bspw. Sozialarbeiter*innen vs. Quereinsteiger*innen, Beschäftigte öffentlicher vs. freier Träger) verstärkt wahrgenommen werden (müssen).
5. Standards in der FSA
Das Thema der „Standards in der Flüchtlingssozialarbeit“ gehört seit dem Beginn der wissenschaftlichen Begleitung – und sicher auch schon zuvor – zu den Dauerthemen. Die einen erhoffen sich von der Entwicklung allgemeiner oder übergreifender Standards die Schaffung einer Basis für eine Vergleichbarkeit und letztlich eine Qualitätssteigerung der FSA. Skeptische Stimmen verweisen aber immer wieder darauf, dass einheitliche Standards nicht in der Lage sind, die komplexen und individuell-vielfältigen Aufgaben der FSA ausreichend abbilden können.
Wir haben wie schon 2017 gefragt, inwieweit bei den einzelnen Trägern überhaupt einheitliche Standards existieren. Der Vergleich zeigt nun eine Tendenz weg von einheitlichen Standards. Während 2017 noch ziemlich genau die Hälfte der Befragten (49%) angegeben hatte, „weitest möglich“ nach Standrads zu arbeiten, sind dies 2020 nur noch 38%. Der Anteil derer, die die Existenz von Standards rundheraus verneinen, ist hingegen um fast ein Drittel, von 15% auf 22% angestiegen.
Des Weiteren sollten sich die Befragten gegenüber drei vorgelegten Statements zur (Un-)Verzichtbarkeit bzw. Notwendigkeit von Standards in der FSA positionieren: Es sollte die Aussage angekreuzt werden, die aus persönlicher Sicht an ehesten zutrifft (Abb. 9). Mittlerweile etwas weniger als ein Drittel der Befragten (65%) antwortet mit verhaltener Zustimmung: FSA lasse sich durch Standards nur sehr bedingt abbilden, aber da wo es möglich sei, sollte man sich daran orientieren; 2017 betrug dieser Anteil noch 72%. Eine weitest mögliche Orientierung an Standards befürwortet weiterhin ein Viertel der Befragten (2017: 23%). Hingegen hat sich die Minderheit derer, die einheitliche Standards in der Flüchtlingssozialarbeit für „weitgehend sinnlos“ halten, „da die Probleme und deren Lösungen zu individuell sind, um irgendwelche Standards darüber zu stülpen“ auf neun Prozent beinahe verdoppelt.
Somit bleibt bezüglich der Einschätzung von Standards und deren Notwendigkeit wie Angemessenheit ein relativ ambivalentes Bild: Eine relativ klare Mehrheit scheint weiterhin den grundsätzlichen Ruf nach Standards in der FSA zu befürworten, allerdings sollten diese Standards sehr differenziert und nur in Teilbereichen gelten, wo es vor dem Hintergrund der spezifischen und individuellen Problemlagen sinnvoll und nützlich ist.
Insgesamt wird der Ruf nach Standards aber deutlich verhaltener, was mit einer Desillusionierung darüber einher zu gehen scheint, mit der Formulierung von allgemeinen Standards Probleme der Praxis heilen zu können. Die Diskussion über Standards in der FSA wird also weitergehen – und muss dies auch, da immer wieder auf‘s neue zu klären ist, worauf sich diese Standards unter welchen Rahmenbedingungen und aus welcher Perspektive beziehen sollen und mit welchen Zielen die Forderung nach und die Übernahme von Standards jeweils verbunden ist.
Schließlich haben wir den Befragten eine Liste mit bestimmten „Gegebenheiten“ der täglichen Arbeit vorgelegt, die man als Standards – oder als Bereiche, in denen Standards vorhanden sind – lesen kann. Die Befragten sollten einerseits angeben, ob das benannte Merkmal in ihrer Arbeit vorhanden ist, andererseits aber auch einschätzen, für wie wichtig sie dieses Merkmal in ihrer derzeitigen täglichen Arbeit halten (auf einer Skala von „1 = sehr wichtig“ bis „5 = völlig unwichtig“).
Abb. 10 zeigt beispielsweise, dass „regelmäßige Beratungs- und Sprechzeiten“ fast überall (98%) vorhanden sind, dass schon „geeignete Arbeitsmittel“ oder die Möglichkeit für „Fort- und Weiterbildungen“ nur noch für 90% gegeben sind; eine Supervision ist nur bei 71% der Befragten vorhanden, eine Mitsprachemöglichkeit der Adressat*innen bei 65% und eine Evaluation bzw. ein Qualitätsmanagement nur noch bei 54%. Diese und andere Beispiele aus der Liste zeigen, dass neben der fast flächendeckenden Existenz bestimmter „Standards“ bei anderen noch sehr viel Luft nach oben besteht.
Zu ersehen ist auch (in den rot abgebildeten Mittelwerten am linken Rand der Balken), dass von den Befragten „geeignete Arbeitsmittel“ zusammen mit „Beratungskompetenz“ und „interkultureller Kompetenz“ für am wichtigsten eingeschätzt, dass aber letztlich alle vorgegebenen Merkmale für „sehr wichtig“ bis „wichtig“ gehalten werden.
6. Betreuungsschlüssel
Eine wesentliche Determinante der Tätigkeit unserer Befragten ist natürlich der jeweilige Betreuungsschlüssel, unter dem sie Ihre Arbeit leisten müssen.
Zunächst bleibt festzuhalten, dass von unseren 155 Befragten nur noch 71 (46%) angegeben haben, dass sie mit einem Betreuungsschlüssel arbeiten; 32 Befragte (21%) arbeiten nach dem Fachleistungsstundenprinzip, die restlichen 52 Personen (33,5%) haben angegeben „Weiß ich nicht“. Die folgenden Aussagen beziehen sich auf die Angaben der 71 Befragten, die explizit mit Betreuungsschlüsseln arbeiten.
Der arithmetische Mittelwert der angegebenen Betreuungsschlüssel (Ist-Stand) beträgt nach den Angaben unserer Befragten 1:105, das ist geringfügig weniger als 2017, wo es noch 1:108 waren. Allerdings war der Mittelwert 2017 dadurch nach oben verzerrt, dass zwei Befragte Betreuungsschlüssel von 1:250 und sogar 1:500 angegeben hatten; der höchste 2020 (von einem Einzelfall) angegebene Schlüssel liegt bei 1:200.
Der Median – also der Wert, von dem aus die eine Hälfte der Stichprobe darunter und die andere Hälfte darüber liegt – beläuft sich 2020 auf 1:120; Im Jahr 2017 lag dieser mit 1:100 deutlich niedriger. Darin spiegelt sich die Tatsache, dass es 2017 mehr Beschäftigte in der FSA gegeben hat, die mit niedrigeren Schlüsseln arbeiten (was sich aufgrund der genannten „Ausreißer“ nach oben eben nicht im arithmetischen Mittelwert niederschlägt).
Der Modus wiederum – das ist der Wert, der absolut am häufigsten genannt wird – liegt in beiden Befragungsjahren bei 1:150.
Schließlich zeigt der „Wunschwert“, also die Antwort auf die Frage, welcher Schlüssel ideal wäre, bei beiden Befragungen unverändert bei 1:60. Daraus lässt sich schließen, dass der Ideal-Wert von 1:60 durchaus begründet ist und mit einer deutlichen Kontinuität als Zielwert angesehen wird.
In der folgenden Abb. 12 sind alle Einzelantworten zur Frage des de facto bestehenden und des „idealen“ Betreuungsschlüssels aufgeführt. Es sticht vor allem die breite Streuung der Antworten ins Auge.
7. Wertschätzung, Anfeindungen und Vorurteile
Ein wesentlicher Aspekt der Rahmenbedingungen der Flüchtlingssozialarbeit bezieht sich auf das soziale Klima im Land hinsichtlich des Themas Migration. Gerade in Sachsen, mit seinen unzähligen Übergriffen gegen Fremde und zuletzt einschlägigen Wahlergebnissen sollte der Frage nach der „Stimmung“ in der Bevölkerung ein besonderes Augenmerk zukommen.
Wir haben die im Kontext der FSA Beschäftigten 2017 wie auch 2020 zunächst gefragt, inwieweit Sie Wertschätzung und Akzeptanz von Seiten der einheimischen Bevölkerung erfahren. Das Ergebnis war für die schwierige und aufreibende Tätigkeit sicherlich 2017 schon desillusionierend – falls man nicht zuvor schon desillusioniert gewesen sein sollte. Die Situation hat sich aber nochmals deutlich verschlimmert: Haben 2017 noch zusammen 52% berichtet, dass sie „sehr häufig“ oder „eher häufig“ Wertschätzung von Seiten der einheimischen Bevölkerung erfahren haben, so sind dies jetzt nur noch 38 %, davon sagen nur zwei Prozent (3 Personen), dies geschehe sehr häufig (Abb. 13).
Die Darstellung zur Frage nach rassistischen / fremdenfeindlichen Reaktionen von Seiten der einheimischen Bevölkerung gegenüber geflüchteten Menschen (Abb. 14) zeigt auf, dass solche Verhaltensweisen noch deutlich zugenommen haben – obwohl die Daten für 2017, wo 46% der Befragten über (häufige oder sehr häufige) rassistischen Anfeindungen berichtet haben, schon erschreckend genug waren. Nun geben zusammen 59% der FSA-Akteure an, solche Reaktionen passierten häufig oder sehr häufig. Besonders der Anstieg der sehr häufigen Anfeindungen von 8% auf 19% gibt zu denken bzw. bestätigt die allgemeine Beobachtung einer zunehmenden Aggressivität und Verrohung auf der – in Sachsen überproportional großen – rechten Flanke des politischen Spektrums.
Wenn also insgesamt ca. 90 % der Befragten – mehr oder weniger häufig – solchen alltäglichen Rassismus gegenüber geflüchteten Menschen wahrnehmen, dann ist das ist eines zivilisierten Landes unwürdig und 90 % zu viel!
Insofern ist vermag es auch nicht zu beruhigen, dass „nur“ 17% (2017: 8%) Prozent der Sozialarbeiter*innen bzw. Betreuer*innen „eher häufig“ solche Reaktionen persönlich erdulden mussten, wie aus der Abb. 15 hervorgeht. Auch hat hier der Anteil derer, die mit solchen persönlichen Anfeindungen sehr selten oder nie konfrontiert sind, dramatisch abgenommen.
Schließlich setzt sich der Negativtrend auch bei der folgenden Frage fort: Auch die in den Institutionen bzw. Ämtern mit dem Thema Flüchtlingssozialarbeit befassten Akteure sind nicht vor fremdenfeindlichen Tendenzen gewappnet; auch der tägliche professionelle Umgang mit der Flucht- und Migrationsproblematik schützt offenbar noch weniger vor rassistischen Weltbildern als noch vor drei Jahren: 45 % der Befragten berichten über „eher“ oder „sehr“ häufige rassistische Reaktionen von dieser Seite, 2017 waren es noch 36%.
1 Wenn wir in diesem Bericht von „Flüchtlingssozialarbeit“ (oder auch „Migrationssozialarbeit“) sprechen, so folgen wir hier einem üblichen, der Mehrheit der Beschäftigten auch gerecht werdenden, aber natürlich streng genommen nicht immer korrekten Sprachgebrauch: Wir haben potenziell alle Personen befragt, die derzeit hauptberuflich in Sachsen mit geflüchteten Menschen arbeiten, ob mit einem beruflichen Abschluss in der Sozialen Arbeit bzw. Sozialpädagogik oder auch mit einem anderen Abschluss. Letztere können natürlich nicht als „Sozialarbeiter*innen“ tätig sein, sondern sind – als Quereinsteiger – als „Soziale Betreuer*innen“, „Flüchtlingsbegleiter*innen“, „Alltagsbegleiter*innen“ (bzw. mit zahlreichen weiteren Bezeichnungen) tätig.
2 Da nicht alle Befragten alle Fragen beantwortet haben, ist die den im Folgenden referierten Prozentangaben zugrundeliegende Anzahl der Befragten meist jedoch geringer als 155.
3 Wobei insgesamt 18 Personen die Frage nach dem Geschlecht nicht beantwortet haben.