Subsidiarität als Chance und Herausforderung für die FSA in sächsischen Kommunen auf dem Weg der Integration

von LaFaSt FSA/MSA in Sachsen


Anlass für dieses Forum war die in letzter Zeit mancherorts teilweise heftig aufgeflammte Diskussion im Zuge der Neuausschreibung und Vergabe der FSA in sächsischen Kommunen – wie vor nicht allzu langer Zeit und immer noch schwelend im Landkreis Leipzig.

In diesem Kontext wurde intensiv über das Subsidiaritätsprinzip als eine strukturelle Voraussetzung (oder auch: einen strukturellen Standard) für das Gelingen von FSA und Integrationsarbeit diskutiert[1].

Ganz grundsätzlich behauptet das Subsidiaritätsprinzip – von lateinisch Subsidium = Hilfe/Unterstützung – den Vorrang der niedrigeren Ebene bei der Erbringung sozialstaatlicher Aufgaben. Nach dem Subsidiaritätsprinzip soll eine (staatliche) Aufgabe soweit wie möglich von der unteren Ebene bzw. kleineren Einheit wahrgenommen werden.

Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass (höhere) staatliche Institutionen nur dann (aber auch immer dann!) regulativ eingreifen sollten, wenn die Möglichkeiten des Einzelnen, einer kleineren Gruppe oder niedrigeren Hierarchie-Ebene allein nicht ausreichen, eine bestimmte Aufgabe selbständig und selbstverantwortlich zu lösen.

Anders gesagt bedeutet dies, dass die Ebene der Regulierungskompetenz immer „so niedrig wie möglich und so hoch wie nötig“ angesiedelt sein sollte.

Das Prinzip ist alt: Es wurde 1920 erstmals gesetzlich in den zentralen Fürsorgegesetzen der Weimarer Republik verankert. Die Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht sowie das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz beinhalteten „Bestandssicherungs- und Vorrangklauseln, die der freien Wohlfahrtspflege eine eigenständige Rolle im Gesamtsystem der kommunalen Wohlfahrtspflege gesetzlich gewährleisteten“[2].

Subsidiarität wurde so zu einem Organisationsprinzip des Wohlfahrtsstaates und das duale System der Wohlfahrtspflege war geschaffen. Das bedeutet: „Gesetzliche Bestands- und Eigenständigkeitsgarantie der freien bei gleichzeitiger Förderungsverpflichtung und Gesamtverantwortung der öffentlichen Träger“[3].

Positiv formuliert werden dadurch Rahmenbedingungen für Partizipation und (ehrenamtliches) Engagement geschaffen, deren Ausmaß letztlich ein Gradmesser für die Qualität des Gemeinwesens sein kann. Das Subsidiaritätsprinzip hilft demnach, Zentralisierungstendenzen abzuwehren und bietet Schutz vor einem übermächtigen Staat.

Nach dieser positiven Rezeption des Subsidiaritätsgedankens besteht die Herausforderung darin, fachlich angemessene Formen einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit aller öffentlichen, freien (und in letzter Zeit auch: gewerblichen) Träger zu finden, die kein ‚wohlwollendes‘ und ausschließlich wettbewerbsorientiertes Verwaltungshandeln bedeuten, sondern die Einhaltung elementarer menschenrechtlicher Standards wie Menschenwürde, gleiche Entwicklungschancen und Solidarität.

Dabei zielt das Subsidiaritätsprinzip auch darauf ab, personennahe Hilfe zu ermöglichen. Der Vorrang freier Träger bei der Erbringung von Leistungen erklärt sich dann dadurch, dass diese lebensweltnäher agieren können als öffentliche Träger, wenn sie an berufsethischen und fachlichen Standards festhalten.

Kritisch betrachtet kann das Subsidiaritätsprinzip grundsätzlich aber auch als recht fragwürdig angesehen werden: Das Prinzip kommt ja im Grunde aus der katholischen Kirche, sie hat es sich zumindest angeeignet. So hat Papst Pius XI es in „Quadragesimo anno“[4] 1931 zum Programm erhoben – und für lange Zeit programmatisch – geschrieben:

„Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen…“[5]

Mit der Berufung auf „Subsidiarität“ wird in dieser Tradition letztlich ein konservatives, bzw. wirtschafts- oder neoliberales Grundverständnis transportiert (wie es in einer neueren Broschüre der katholischen Kirche zum Ausdruck kommt):

„Der katholischen Soziallehre entsprechend bedeutet Subsidiarität so viel Initiative und Problemlösung des Einzelnen wie möglich und nur so viel Hilfe der nächsthöheren Ebene wie nötig. Zunächst ist immer und solidarisch die kleinere Einheit gefordert, Familie, Freunde, Arbeitskollegen, Nachbarschaft, Ortsgemeinde, Landkreis, Bundesland etc. Erst wenn diese Kräfte nicht ausreichen oder nicht in die Lage versetzt werden können zu handeln, ist die nächsthöhere Ebene in der Pflicht.“[6]

Dies lässt sich nun natürlich nahtlos einfügen ein in das wirtschafts- oder neoliberale Programm der Abschaffung staatlicher Verantwortung in der Sozialpolitik.

Hier sollte es aber nicht um eine geistesgeschichtliche Auseinandersetzung oder eine wirtschaftspolitische Grundsatzdebatte gehen, sondern wir wollten das Ganze vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten auf die Ausgangsfrage herunterbrechen, ob Flüchtlingssozialarbeit – im Sinne einer positiven Rezeption des Subsidiaritätsprinzips – bei freien oder direkt bei den öffentlichen Trägern angesiedelt werden soll.

Verfechter einer Ansiedlung der FSA beim öffentlichen Träger verweisen dabei

  • auf kurze Wege (wenn alles an einem Ort angesiedelt ist),
  • auf mögliche Synergieeffekte
  • bzw. auf die Vermeidung von Doppelstrukturen.

Dagegen befürchten Kritiker dieses Vorgehens, v.a. Vertreter*innen der Freien Träger und der Wohlfahrtsverbände

  • ein Verschwimmen der Zuständigkeiten
  • und einen Vertrauensverlust gegenüber der FSA aus der Sicht der geflüchteten Menschen, wenn FSA als Teil einer Behörde agiert und wahrgenommen wird.

Aus der Perspektive Sozialer Arbeit kann man festhalten:

Soziale Arbeit sieht sich gehalten, Rechtsansprüche, Bedürfnisse und Interessen von Adressat*innen zur Geltung zu bringen und zugleich auch soziale Kontrollinteressen seitens öffentlicher Steuerungsinstanzen zu berücksichtigen. Das Gleichgewicht zwischen Hilfe, Kontrolle und den Standards Sozialer Arbeit zu halten, ist ein Spagat, der zum einen von den Fachkräften selbst zu vollziehen ist, aber auch in den Kooperationen zwischen freien und öffentlichen Trägern wirksam wird.

Dies vor allem, wenn sich freie Träger eher den Lebenswelten und Aufträgen der Adressat*innen verpflichtet fühlen und öffentliche Träger sich vor allem als Steuerungsagentur staatlicher Interessen verstehen. Dann prallen unterschiedliche Handlungslogiken (z.B. Hierarchie vs. Solidarität) aufeinander, werden Machtverhältnisse und Rollenkonflikte manifest.

In der Tat erscheint es auch uns als Wissenschaftliche Begleitung zumindest sehr fraglich, ob es im Sinne des Auftrags und der  professionellen Standards der Flüchtlingssozialarbeit akzeptabel sein kann, wenn die Instanz, die Hilfe und Unterstützung beim Ankommen und bei der weiteren Integration leisten soll und dabei auf den Aufbau einer Vertrauensbeziehung zu den geflüchteten Menschen angewiesen ist, direkt an der Institution der staatlichen Exekutive angesiedelt ist, die sich im Zweifelsfall der Kontrolle und der Prüfung von Voraussetzungen verpflichtet sieht.

Andererseits sehen wir auch am Beispiel des Vogtlandkreises, dass dieser Spagat offenbar – so ist zumindest Stimmen zu entnehmen, die wir dazu vernommen haben – auch gut gelingen kann.

Wir wollten das Forum so offen wie möglich gestalten, das heißt der Ablaufplan ergab sich aus den Inputs, den Fragen und Diskussionsbeiträgen.

Referent*innen:

  • Der Amtsleiter des Ordnungs- und Ausländeramtes im Vogtlandkreis, Jens Mittenzwey hat uns als Vertreter eines Landkreises, der die FSA selbst organisiert, dazu Auskunft gegeben wie es zu dieser Lösung kam, wie dieses Modell funktioniert und unter welchen Voraussetzungen damit eine qualitativ hochwertige Flüchtlingssozialarbeit erreicht werden soll – und kann.
  • Als – zumindest formaler – Gegenpart hat dann Sven Kuhn, Sachgebietsleiter SG Unterbringungs- und Sozialkoordination im Landratsamt Erzgebirgskreis – als Vertreter eines Landkreises, der die FSA an freie Träger vergibt – erläutert, wie die FSA dort organisiert ist, aus welchen Überlegungen heraus und mit welchen Erfahrungen.
  • Schließlich hat Julia Schieferdecker von der Landesfachstelle Diversität und Interkulturelle Öffnung, Fachbereich Migration, Flucht und Inklusion beim Landesverband Sachsen der Arbeiterwohlfahrt das Thema aus der Sicht eines Wohlfahrtsverbandes abgerundet.

Fachinput zu:

Flüchtlingssozialarbeit im Erzgebirgskreis – Vortrag im Rahmen des Fachtages „Wissenschaftliche Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen“

von Sven Kuhn, Sachgebietsleiter SG Unterbringungs- und Sozialkoordination, LRA Erzgebirgskreis

Subsidiarität als Chance

von Julia Schieferdecker, Projektkoordination Fachbereich Migration, Flüchtlinge und Inklusion, AWO Sachsen


LaFaSt FSA/MSA in Sachsen

[1] Vgl. dazu: Gemende Marion, Jerzak Claudia, Lehr Margit, Sand Marianne, Wagner Bernhard (2020): Die Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzips – oder weshalb Flüchtlingssozialarbeit von freien und öffentlichen Trägern kooperativ und ‚auf Augenhöhe‘ geleistet werden muss. In: dies.: Abschlussbericht 2018/2019 zum Projekt „Wissenschaftliche Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen – Zusammenarbeit in Integrationsnetzwerken im ländlichen Raum“ S. 44 – 49. Dresden: ehs Dresden

[2] Sachße, Christoph (2008): Subsidiarität. In: Dieter Kreft/Ingrid Mielenz (Hg.): Wörterbuch Soziale Arbeit – Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Weinheim und München: Juventa Verlag, S. 942-946.

[3] Ebd., S. 943

[4] Eine deutsche Übersetzung findet sich auf: https://homepage.univie.ac.at/Christian.Sitte/PAkrems/zerbs/volkswirtschaft_I/beispiele/wio_b07.html (22.2.2021)

[5] Ebd., Abschnitt 79

[6] Bischöfliches Ordinariat der Diözese Rottenburg-Stuttgart (Hg.) (2016): Das Subsidiaritätsprinzip. Gute Argumente für Kirche als wertgebundene Trägerin sozialer Dienste in einem pluralen Staat. Stuttgart

Diesen Artikel finden Sie in der Dokumentation des Fachtages:

Flüchtlingssozialarbeit auf dem Weg der Integration von Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund– Entwicklungen, Positionierungen, (Heraus)Forderungen” (2020)

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