Subsidiarität als Chance

von Julia Schieferdecker, Projektkoordination Fachbereich Migration, Flüchtlinge und Inklusion, AWO Sachsen


Wenn wir über das Subsidiaritätsprinzip und dessen Bedeutung für unsere heutige Zeit sprechen, scheint es sinnvoll einen Blick zurückzuwerfen und einen kurzen Exkurs in die Geschichte zu nehmen. Die Vergabe der Sozialarbeit an die freien Träger hat eine lange Tradition. Gerade durch diese lange Tradition konnte sich Sozialarbeit in freier Trägerschaft in politischen Krisen bewähren.

Als Ursprung der Gründung freier Trägerschaften gelten die Schlachten bei Magenta und Solferino im Jahr 1859. Henry Dunant organisierte Hilfe aus den umliegenden Dörfern für die zurückgelassenen Verwundeten. Hierbei ist hervorzuheben, dass die Hilfeleistungen allen Soldaten zu Gute kamen, unabhängig ihrer nationalen Zugehörigkeit, ganz nach der Losung „Tutti fratelli“ (ital. „Alle sind Brüder“). Geprägt durch die Erfahrungen 1859 forderte Dunant in seiner Schrift „Eine Erinnerung an Solferino“ (1862) ein internationales Abkommen zum Schutz der Kriegsopfer. Um dies umzusetzen solle in allen Ländern Hilfsgesellschaften gegründet werden, welche im Kriegsfall die Armeen in Form von Sanitätsdiensten unterstützen können. Das ist der Beginn einer weltweiten Rotkreuzbewegung, aus welcher 1863 die Gründung des heutigen DRK hervorgeht[1].

Hier wurde erkannt, dass es eine staatlich unabhängige Versorgung, damals von Soldaten, geben muss. Damit war die Idee einer sozialpolitischen Regelung – das Subsidiaritätsprinzip – geboren.

Das Subsidiaritätsprinzip stärkt Menschen, ihre sozialen Rechte wahrzunehmen. Gerade in Bezug auf eine unabhängige Beratung und Unterstützung ist eine Trennung von Staat und Sozialarbeit wichtig. Dies kann exemplarisch an zwei Beispielen benannt werden:

  • Frauen im Schwangerschaftskonflikt: Hier gilt eine klare Trennung zwischen Staat und Familie.
  • Menschen mit Behinderungen, die ihre Rechte vielleicht nicht selbstständig wahrnehmen können: Seit 2008 haben die Landkreise die Funktion übernommen, den Grad der Behinderung bei Menschen mit Beeinträchtigung festzulegen. Seitdem kommt es vermehrt zu Klagen über die von den Kommunen festgestellte Einstufung, die vielfach gewonnen werden. Daraus könnte geschlossen werden, dass kommunales Kassendenken Einfluss auf die Entscheidungen hat.

Seit 2017/2018 nehmen wir in der FSA/Asylpolitik wahr, dass politische Akteur*innen an verschiedenen Stellen erneut versuchen Einfluss zu nehmen. So beispielsweise bei der Betreuung und Beratung in den EAE durch das BAMF selbst wie auch bei der Übernahme der FSA durch die Kommunen.

Wir fragen uns, warum gerade bei den Schwächsten angefangen wird, das Subsidiaritätsprinzip anzugreifen und zu verwerfen?

Wir sehen es mit Sorge, dass sächsische Verwaltungen ihr Handeln immer weiter ausbauen. Daher sehen wir als AWO unsere Rolle kontinuierlich darauf hinzuweisen, daran zu erinnern und dafür zu kämpfen, warum es das Prinzip der Subsidiarität gibt und welche wichtige Bedeutung es auch für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt hat.

Gerade in Sachsen, in dem Bundesland in dem das Vertrauen und die Zustimmung für Demokratie und Politik seit längerem abnimmt, halten wir es für wichtig, dass staatliches Handeln kontrollierbar und vor allem korrigierbar bleibt. Nur so kann Vertrauen und Verständnis in Entscheidungen geschaffen werden.

Natürlich ist es reizvoll, FSA in Verwaltungshand zu geben.  Ein Grund dafür können die kurzen Wege, die direkten Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den unterschiedlichen Abteilungen, wie Jugendamt, Ordnungsamt, Ausländerbehörde, Sozialamt und weitere Stellen sein. Damit wird aber auch Transparenz abgebaut, aufgrund welcher Informationen Entscheidungen getroffen werden. Das unterstützt die Vermutung, dass Menschen schon vor einer Entscheidung gelabelt sind. Ebenfalls scheinen die betroffenen Menschen mehr oder weniger gläsern, da Informationen zwischen den Fachabteilungen ausgetauscht werden könnten.

Wir sehen FSA beim öffentlichen Träger im Interessenkonflikt mit den Dienstherren und Dienstdamen. Eine politische Veränderung in den Kommunen hätte somit direkte Auswirkungen auf die FSA und somit für die Zielgruppe.

Das führt zu einem Loyalitätskonflikt im Tripelmandat der Sozialarbeiter*innen (Klient*in – Staat – eigene Profession). Wir brauchen eine vertrauensvolle und unabhängige Beratung der Menschen, die andere Perspektiven als die der Ausländerbehörde einnehmen kann. FSA in freier Trägerschaft wird als Puffer zwischen Ausländerbehörde und Klient*innen wahrgenommen. Hier kann der freie Träger als Mediator fungieren.


Welche Konstellation zur Organisation der FSA in den Landkreisen würden Sie langfristig empfehlen?

Eine direkte Vergabe an den Träger ohne Ausschreibung, ist aufgrund der behördlichen Gliederung nicht umsetzbar.  Wichtig ist auch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit, eine transparente Kommunikation auf Augenhöhe, sowie eine Regelfinanzierung, damit Planungssicherheit und Aufteilung der Sozialräume zwischen verschiedenen Trägern gewährleistet werden kann. Die Einrichtung einer Schlichtungsstelle als Schnittstelle zwischen Kommune und freien Träger als Mittlerfunktion scheint zielfördernd.


Was spricht dafür, die FSA direkt vom öffentlichen Träger aus zu organisieren bzw. sie an freie Trägern zu vergeben?

Ein Argument ist die Unabhängkeit von kommunalen Kassen. Aber für solch eine Umsetzung von FSA braucht es einen vertrauensvollen Umgang. Die Trennung von staatlichen und sozialen Aufträgen muss gewährleistet sein, um nach bestmöglichen Fähigkeiten für die Zielgruppe zu arbeiten.

Ebenso bemerken wir, dass in einigen LKs Mitarbeiter*innen für andere Aufgaben eingesetzt werden (momentan bspw. für Aufgaben Corona betreffend). Durch die vielen Arbeitsaufgaben im Amt lässt sich vermuten, dass Menschen nicht als eigener Fall betrachtet werden können, sondern eine Umsetzung der klientenorientierten Aufträge ressourcenorientiert erfolgt. Verwaltungshandeln bleibt kontrollierbar und auch korrigierbar.

Wir sehen FSA im öffentlichen Dienst im Interessenkonflikt mit Dienstherren und/oder Dienstdamen. Hier muss eine mögliche politische Veränderung der Kommunen bedacht werden, da dies Einfluss auf die Arbeit haben kann.

Der Loyalitätskonflikt im Tripelmandat muss auch an dieser Stelle angeführt werden.


Welche Erfahrungen haben Sie mit der FSA in Ihrem Kontext gemacht? (bzw. welche Vorteile – ggf. auch Nachteile – hat die von Ihnen verfolgte Praxis?)

Unsere Erfahrungen mit Koordination / Schiedsstelle / Mediator / Fachaufsicht als Mittlerfunktion und bei organisatorischen und fachinhaltlichen Fragen z.B. in der Zusammenarbeit mit anderen Ämtern können wir als gut bewerten.


Unter welchen Voraussetzungen kann Ihr Modell mit freien Trägern funktionieren?

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine offene transparente Kommunikation, schnelle und kurze Wege sehr geschätzt werden seitens der Behörde. Dabei sollte stets beidseitig auf Verständnis, Höflichkeit und Sachlichkeit geachtet werden.

Ein regelmäßiger Fachaustausch über gemeinsame Themen auf Augenhöhe muss umgesetzt werden. Sobald es von oben herab und aggressiv im Anweisungston läuft, fällt das beiden Seiten auf die Füße.

Es darf nicht zum Inhalt werden nur Probleme aufzuzeigen, sondern die Situation beschreiben und mögliche Lösungsweg anzugeben. Es braucht eine konstruktive Debatte.

Ebenfalls empfehlen wir längere Ausschreibungszeiten.  Ein Trägerwechsel erscheint nicht immer förderlich. Ein Trägerwechsel unterbricht Netzwerke und bereits angestoßene Prozesse. Eine Konstanz in der Trägerlandschaft bringt Ruhe für das Amt und den Träger sowie Kontinuität für die Klient*innen.


Julia Schieferdecker

awo-in-sachsen.de

Dieser Artikel gehört zum Arbeitstisch 2 des Fachtages Flüchtlingssozialarbeit auf dem Weg der Integration von Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund– Entwicklungen, Positionierungen, (Heraus)Forderungen (2020):

Subsidiarität als Chance und Herausforderung für die FSA in sächsischen Kommunen auf dem Weg der Integration

Diesen Artikel finden Sie in der Dokumentation des Fachtages:

Flüchtlingssozialarbeit auf dem Weg der Integration von Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund– Entwicklungen, Positionierungen, (Heraus)Forderungen” (2020)

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[1] Vgl.: https://www.redcross.ch/de/internationale-rotkreuz-und-rothalbmond-bewegung/ursprung-der-rotkreuz-und-rothalbmondbewegung


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