Erfahrungen mit dem Dresdener Modell der Flüchtlingssozialarbeit

von Dr. Albrecht von der Lieth, Regionalkoordinator FSA im Ausländerrat Dresden


Migrationssozialarbeit wird in Dresden seit Mitte 2017 durch vier Träger erbracht und gliedert sich seit Mitte 2019 konzeptionell in drei Leistungsbausteine: Willkommensleistung, Integrationsbüro und Fachleistungen.

Die Willkommensleistung stellt das reguläre Beratungsangebot für KlientInnen im ersten Jahr ihrer kommunalen Zuweisung dar. Sie umfasst die Beratung in den wesentlichen Aspekten des ersten Ankommens: materielle Existenzsicherung, Gesundheitsversorgung, Schule und Kita, Klärung der aufenthaltsrechtlichen Situation und i.d.R. die Entwicklung einer Strategie zur bestmöglichen Aufenthaltsverstetigung, Vermittlung in Sprachkurse und sonstige Bildungsangebote, verbunden mit einer Erhebung von Fähigkeiten und Interessen mit dem Ziel einer zügigen Integrierung in den Arbeitsmarkt und die damit verbundene Erlangung von (auch finanzieller) Selbständigkeit.

Für KlientInnen mit komplexen Beratungsbedarfen besteht die Möglichkeit, Beratung im Rahmen von amtlicherseits bewilligten Fachleistungsstunden zu erbringen. Fachleistungsrelevante Bedarfe sind in einem Kriterienkatalog definiert; zudem existiert eine „Komplexitätsschwelle“ von einem prognostizierten Beratungsbedarf von mindestens 35 Stunden für die dem Antrag folgenden zwölf Monate. Fachleistungen werden für maximal ein Jahr bewilligt und können anschließend verlängert werden.

Der dritte Leistungsbaustein, das Integrationsbüro, steht allen KlientInnen zur Verfügung, die nicht mehr im Rahmen der Willkommensleistung beraten werden können, und noch nicht die Komplexitätsschwelle einer Fachleistung erreicht haben. Die an die BeraterInnen herangetragenen Anliegen umfassen sämtliche Bereiche des Lebens. Als Faustformel kann man formulieren, dass Fachleistungen komplex und zeitaufwändig sind, im Integrationsbüro dagegen Anliegen behandelt werden, die entweder komplex, oder zeitaufwändig, oder weder das eine noch das andere sind.

Fachleistungsrelevante Bedarfe umfassen i.d.R. komplexe Beratungsanliegen der Lebensbereiche „Familie“, „Gesundheit“, „Wohnen“ und „persönliche Krisen“. Parallel anfallende Beratungsbedarfe anderer Lebensbereiche (z.B. Existenzsicherung), werden im Rahmen der Fachleistung mit bearbeitet. Ist ein Klient bspw. aufgrund einer Depression nicht in der Lage, seine Jobcenter-Kommunikation selbständig zu bewältigen, wird dies im Rahmen der Fachleistung mit erledigt, da eine Besserung der Gesamtsituation ohne Stabilisierung der finanziellen Verhältnisse schwer zu erreichen sein wird.

Fachleistungen werden mittels Formulars angezeigt. Dieses ist zwar von den KlientInnen zu unterschreiben, jedoch zeigt die bisherige Erfahrung, dass eine Vermittlung der Notwendigkeit, die individuellen, teils sehr intimen, Probleme einer dritten Instanz offenzulegen, zu der viele KlientInnen zudem bestenfalls keine, nicht selten aber eine eher konfliktbehaftete Beziehung hatten, schwer fällt. Eine intensive Beschäftigung mit den Formularen zusammen mit den KlientInnen, im Sinne eines Integrations- und Hilfeplanes, war in der Praxis bisher schwierig und den BeraterInnen in der Regel sehr unangenehm. Die amtsseitige Entscheidung über die Bewilligung von Fachleistungen findet in der Regel auf der Basis der Bedarfsanzeige, sowie (falls zutreffend) auf Basis des Fallberichts zum Verlauf der Hilfe des abgelaufenen Fachleistungszeitraumes statt. Eine Einbeziehung der eigentlichen AdressatInnen der Hilfen im Sinne eines Hilfeplangespräches o.ä. findet bislang lediglich in Ausnahmefällen statt.

Insgesamt befanden sich im vergangenen Jahr im Bereich Dresden-Mitte ca. 50 Haushalte in der Fachleistungsberatung, bei einer Bewilligungshöhe von ca. 50h und einer Bewilligungsdauer von durchschnittlich neun Monaten. Diese 50 Haushalte umfassen ca. 150 Personen. Im Bereich der Willkommensleistung sind zum Jahresende 2021 mehr als 200 Personen in der Beratung. Im Kontrast dazu beläuft sich der aktive KlientInnenstamm (d.h. diejenigen Haushalte, die in regelmäßigem Kontakt zu den BeraterInnen stehen) im Bereich des Integrationsbüros auf etwa 1050 Personen. Insgesamt hat die Migrationssozialarbeit somit regelmäßigen Kontakt zu Haushalten im Umfang von ca. 1400 Personen.

Die bisherigen Erfahrungen zu einer fachleistungsbasierten Migrationssozialarbeit lassen einige positive Aspekte erkennen, die es zu erhalten gilt, als auch einige kritische Punkte, die in Zukunft noch verbessert werden sollten. In einigen Fragen sind abschließende Bewertungen noch nicht möglich.

Positiv ist sicherlich, dass aufgrund der systemimmanenten Notwendigkeit detaillierter Beratungsdokumentationen mittlerweile ein umfangreicher Schatz quantitativer Daten zu einer Vielzahl von KlientInnen vorliegt. Diese Daten ermöglichen nicht nur eine Vielzahl inhaltlicher Auswertungen, sondern haben – mit zunehmender Dauer der Datenerhebung und Verbreiterung der Erhebungsbasis – auch prognostischen Wert. Nachfolgend zwei Beispiele, ebenfalls für den Bereich Dresden-Mitte:

Schema: Dr. Albrecht von der Lieth

Aus den dokumentierten Daten lassen sich nicht nur monatsweise Auswertungen erstellen, sondern auch Beratungsprozesse in ihrem zeitlichen Verlauf und quantitativer Entwicklung analysieren. So kann beispielsweise ausgewertet werden, wie sich der Beratungsbedarf der uns aufsuchenden KlientInnen im Laufe der Zeit entwickelt. Die bisherigen Daten untermauern hier z.B. die häufige Erfahrung aus der Praxis, dass eine Beratungsbeziehung zunächst mit einer eher überschaubaren Anzahl von Anliegen beginnt, dann eine Phase folgt, in der die „eigentlichen“ Themen auf den Tisch kommen, und anschließend, nach deren Bearbeitung, eine Verbesserung der Situation, verbunden mit entsprechend geringeren Beratungsbedarfen, eintritt. Die Erfahrung, dass der Aufbau einer belastbaren Vertrauensbeziehung wesentlich ist für den Beratungserfolg, und diese Phase in der Regel nicht unter einem halben Jahr dauert, findet sich hier in den Zahlen bestätigt.

Schema: Dr. Albrecht von der Lieth

Die zweite Auswertung illustriert den prognostischen Wert der dokumentierten Daten. Links sind die durchschnittlichen monatlichen Beratungsumfänge zweier unterschiedlicher Fallkonstellationen dargestellt: Blau dargestellt ist die Entwicklung derjenigen Beratungsprozesse, in denen auf den Erstkontakt im ersten Beratungsmonat auch im folgenden Monat ein Beratungskontakt zustande kam. Die Auswertung lässt erkennen, dass in derartige Beratungsprozesse in den darauffolgenden Monaten in der Regel jeweils knapp 3h an Beratungsaufwand pro Monat anfielen. Grün dargestellt ist demgegenüber die Entwicklung all derjenigen Beratungsprozesse, in denen auf den Erstkontakt kein Beratungsbedarf im folgenden Monat anfiel. Die Auswertung lässt hier erkennen, dass die in den darauffolgenden Monaten an die BeraterInnen herangetragen Anliegen im Durchschnitt eher 2h pro Monat in Anspruch nahmen. Allein aus der Beratungsfrequenz der ersten sechs bis acht Wochen einer Beratungsbeziehung lassen sich also substantielle prognostische Aussagen zum weiteren Verlauf der Beratungsbeziehung treffen, die helfen können, die Auslastung des Beratungsangebotes insgesamt vorausschauend zu steuern.

Positiv ist, dass die vermehrte Dokumentations- und Steuerungsnotwendigkeit auf Trägerseite auch dazu geführt hat, dass trägerseitig insgesamt eine stärker einzelfallorientierte Ressourcenallokation stattfindet. Während früher häufig jedem/jeder BeraterIn pauschal eine Anzahl von KlientInnen qua geltendem Betreuungsschlüssel zugeteilt wurde, tritt heute stärker der jeweils mit einem konkreten Fall verbundene Aufwand in den Vordergrund und führt dazu, dass im gleichen Team sehr unterschiedliche Betreuungsquoten parallel existieren, die allerdings am jeweils konkreten Beratungsbedarf der KlientInnen orientiert sind und insofern weder von den MitarbeiterInnen noch den KlientInnen als ungerecht empfunden werden.

Allerdings ist eine solche Herangehensweise – genauso wie die Vorzüge detaillierter Dokumentationen – nicht an die Existenz eines fachleistungsbasierten Beratungskonzeptes gebunden. Auch ein pauschal finanziertes Beratungsangebot wäre frei, für die interne Ressourcenverteilung eine einzelfallorientierte Betrachtungsweise zu wählen und die erfolgten Beratungen detailliert zu dokumentieren.

Schließlich birgt das Fachleistungssystem das Potential für ein stärker fachlich reflektiertes Agieren in der Beratung, durch die Möglichkeit einer externen Falleinschätzung, -bewertung und -absprache. Dieser Aspekt ist aktuell zwar noch wenig entwickelt, jedoch eröffnet eine einzelfallorientierte Bewilligung von Beratungsleistungen die Möglichkeit, in der Phase der Bedarfseinschätzung in intensiven fachlichen Austausch zwischen der unmittelbar „am Fall“ arbeitenden und der eher aus Distanz einschätzenden Fachkraft zu treten und somit für die Fallbearbeitung wichtige fachliche Impulse aus einer externen Perspektive zu erhalten.

Kritisch ist zunächst die mit der Einführung eines fachleistungsbasierten Beratungsmodus einziehende Ökonomisierung der Sozialen Arbeit im Bereich der Migrationssozialarbeit zu benennen. Aus Gründen der Trägerfinanzierung müssen MitarbeiterInnen Fachleistungsfälle akquirieren, „aussichtsreiche“ Fälle möglichst überzeugend dem Leistungsträger als umfassender Hilfe bedürftig darstellen und auf diese Weise ihre eigene Stelle sowie die finanzielle Sicherheit des Trägers sichern. Das ist einer qualitativ hochwertigen Arbeit nicht zuträglich.

Daneben ist auch der Verwaltungsaufwand des aktuellen Systems unverhältnismäßig. Trägerseitig ist nicht nur die Anzeige von Fachleistungsbedarfen, die Verwaltung der aktiven Fachleistungsfälle und die Abrechnung der Fachleistungsberatungen ein nennenswerter Aufwand, sondern insbesondere auch die Koordinierung von drei parallel stattfindenden „Beratungskonzepten“ mit unterschiedlichen Anforderungen an Inhalt, Dokumentation, Finanzierung und ggf. Abrechnung sowie die gleichmäßige Fallzuweisung im Team. Bedenkt man weiterhin, dass der trägerseitige Verwaltungsaufwand der Fachleistungen amtsseitig in sicherlich vergleichbarer Größenordnung ebenfalls existiert, so wird deutlich, dass das aktuelle System doch einen erheblichen Overhead produziert.

Fachlich unbefriedigend ist insbesondere die mangelnde Einbeziehung der KlientInnen in den Prozess der Bedarfsfeststellung. Zwar unterschreiben die KlientInnen die Formulare zur Fachleistungsbedarfsanzeige, jedoch ist es nach unseren Erfahrungen praktisch nie der Fall, dass sie im anschließenden amtsseitigen Prozess der Bedarfs­einschätzung, Zielformulierung und Ressourcenbewilligung noch einmal zu Wort kommen. Ob die amtsseitig ermittelten Ziele und Bedarfe überhaupt der Selbsteinschätzung der KlientInnen entsprechen, wird de facto bestenfalls in außergewöhnlichen Einzelfällen noch einmal gegengeprüft; ein Procedere zur Abwandlung einer amtsseitig erfolgten Bedarfsermittlung durch die betroffenen KlientInnen ist nicht vorhanden. Dieser fachlich unbefriedigende Zustand führt – von einem allgemeinen Legitimationsdefizit abgesehen – auf der Ebene der BeraterInnen wiederum dazu, dass der gesamte Prozess der Fachleistungsanzeige und -bewilligung soweit wie möglich von den KlientInnen fern gehalten wird, was die diesbezüglichen Defizite natürlich nur noch erhöht. Im Lichte dieser Aspekte ist aktuell nur schwer einzuschätzen, inwiefern ein fachleistungsbasiertes Beratungsangebot tatsächlich eine verbesserte Beratung ermöglicht oder gar bewirkt. Die Kernfrage „Was ist jetzt besser als zuvor?“, die natürlich immer erst mit einer gewissen Eingewöhnungszeit sinnvoll gestellt werden kann, ist aktuell jedenfalls nicht ohne weiteres in die eine oder andere Richtung beantwortbar.


Dr. Albrecht von der Lieth

Dieser Artikel gehört zum Arbeitstisch 4 des Fachtages “Vom Ankommen und Bleiben – Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen zwischen Innovation und Verstetigung” (2021):

FSA in Stadt und Land – Regionale Modelle der Flüchtlings- und Migrationssozialarbeit

Diesen Artikel finden Sie in der Dokumentation des Fachtages:

“Vom Ankommen und Bleiben – Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen zwischen Innovation und Verstetigung” (2021)

Für eine kostenlose Druckversion schreiben Sie an info@lafast-sachsen.net

Online-Fachtag “Vom Ankommen und Bleiben – Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen zwischen Innovation und Verstetigung”
Dr. Albrecht von der Lieth, Regionalkoordinator FSA im Ausländerrat Dresden

Screenshots: LaFaSt


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