Empowermentorientierte Geflüchtetensozialarbeit – rassismuskritische Anfragen und Impulse
von Mohammed Jouni, Referent der politischen Bildung und Empowerment-Trainer; Mitbegründer »Jugendliche ohne Grenzen«; Sozialarbeiter im BZZ, Berlin
Mohammed Jouni ging in seinem Vortrag zunächst auf den Ursprung des Empowerment-Konzepts ein. Der Entstehungskontext liege im Kolonialismus und der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Jouni betont, dass politisches Ziel war, die Gesellschaft umzuwälzen und nachhaltig zu verändern, so dass Gruppen von Menschen zu ihrem Ziel kommen.
In den späten 80er Jahren wurden mit der Selbsthilfe-Bewegung Empowerment-Ansätze in Deutschland aufgenommen, wo sie dann auch Eingang in die Soziale Arbeit fanden. Jouni führte weiter aus, dass es nicht möglich sei, andere Menschen zu empowern. Es könne nur eine Umgebung hergestellt werden, in der Empowermenterfahrungen gemacht werden können. Zudem brauche es zwar die konkrete Unterstützung von Menschen, aber immer auch das Hinwirken auf strukturelle Veränderungen. Andernfalls blieben gesellschaftliche Ungleichgewichte bestehen.
Der Referent beschrieb dann die vielfältigen Herausforderungen, die geflüchteten Menschen in Deutschland begegnen:
Rechtliche Regelungen: Asyl- und aufenthaltsrechtliche Regelungen beinhalten nicht nur verschiedene Verbote (z. B. Arbeitsverbot; Verbot, den Wohnort, zu verlassen), sondern führen u. a. auch zu rechtlich erzwungener Armut und Passivität.
- Traumata: Geflüchtete Menschen sind nicht nur durch Erlebnisse in den Herkunftsländern traumatisiert, sondern erleben (Re-)Traumatisierungen v. a. auch im Ankunftsland, bspw. durch Rassismuserfahrungen stattfinden, oder weil Ideen und Zukunftswünsche durch die Realität im Ankunftsland zerstört werden.
- Fehlendes Vertrauen: Sozialarbeiter*innen nehmen teilweise ihre Schweigepflicht nicht ernst und werden schnell als Handlanger*innen von Behörden angesehen.
- Verschiedene Diskriminierungen: Neben Rassismus erleben Geflüchtete bspw. Adultismus, Sexismus, Cis-Sexismus, strukturell erzwungene Armut.
- Ansatz von Zivilisierung und Integration: Häufig besteht die rassistische Annahme, dass die Personen kriminell würden, wenn sie nicht „integriert“ und „zivilisiert“ werden, weil sie aufgrund ihrer Herkunft aggressiv, rückständig, sexistisch etc. seien. Geflüchtete müssen daher ständig beweisen, dass sie nicht so sind und sie wissen, dass sie diesbezüglich unter Beobachtung stehen.
- Kulturalisierung und Kriminalisierung: Geflüchtete Menschen werden hauptsächlich durch die Kulturbrille betrachtet. Zudem werden v. a. Jungs/Männer häufig kriminalisiert.
- Defizitorientierter Ansatz: Dieser ist strukturell verankert, da sich die Geflüchtetensozialarbeit auch aus einem Defizit ableitet bzw. dadurch begründet wird.
- Fehlende Identifikationsfiguren: In der Sozialen Arbeit sind v. a. weiße[1] Frauen tätig. Diese müssen keine schlechten Sozialarbeiter*innen seien, jedoch kann häufig keine Identifikation abgeleitet werden.
- Dankbarkeitserwartung: Von geflüchteten Menschen wird häufig erwartet, dass sie dankbar gegenüber Sozialarbeiter*innen und dem Ankunftsland sind.
All diese sowie weitere Herausforderungen müssten in der Arbeit mit geflüchteten Menschen berücksichtigt werden.
Vor diesem Hintergrund erläuterte er die Bedeutung von Empowerment-Räumen. Dies seien Räume, in denen Menschen ohne die Anwesenheit von Pädagog*innen oder anderen Personen, die ihre Erfahrungen nicht teilen, für sich reflektieren können. Er verglich dies mit der Teamsitzung für Pädagog*innen, in denen diese ohne die Anwesenheit von Klient*innen reflektieren. Empowerment-Räume könnten auch moderiert oder durch Supervisor*innen unterstützt sein und sie finden am besten nicht nur einmal, sondern als Prozess statt. Geflüchtete Menschen könnten in diesen Räumen ihre Erfahrungen thematisieren, manchmal auch ohne zu wissen, dass es um Rassismus geht.
Schließlich stellte Mohammed Jouni „Jugendliche ohne Grenzen“ (JoG)[2] als Beispiel einer Selbstorganisation als (Self)Empowerment-Raum vor. JoG ist ein 2005 gegründeter bundesweiter Zusammenschluss von geflüchteten Jugendlichen. Erreichen möchte JoG:
- die Wertschätzung und Anerkennung als Erfahrungsexpert*innen (so nehmen Mitglieder von JoG bspw. an Podien nicht als „Betroffene“, sondern als Erfahrungsexpert*innen teil)
- ein echtes Bleiberecht für alle
- die Umsetzung der UNO-Kinderrechte
- Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt
- Ermöglichung von Selbstorganisierung durch die Schaffung von Empowerment-Räumen
Die Organisation setzt verschiedene Aktivitäten wie Kampagnen, Treffen mit Politiker*innen und Infoveranstaltungen um. Parallel zu den jährlichen Innenministerkonferenzen werden zudem Jugendkonferenzen organisiert, im Rahmen derer jeweils Workshops und Demonstrationen stattfinden und der Abschiebeminister des Jahres als Initiativen-Preis gewählt wird.
Fotos: Mohammed Jouni
Positive Effekte der Partizipation sind auf individueller Ebene, dass oft eine Verbesserung des Aufenthaltsstatus erwirkt werden kann, Skills wie Sprechen und Organisieren erworben werden. Zudem würden positive Erfahrungen von Gruppe und Solidarität gemacht und Bilder in den Köpfen der Jugendlichen würden sich verändern, so dass sie rebellieren und ihre Situation verändern wollen.
Vor diesem Hintergrund weist Mohammed Jouni darauf hin, dass empowerte Geflüchtete, nicht nur liebe hilfsbedürftige Personen sind, sondern Forderungen stellen und auch Pädagog*innen und Institutionen in Frage stellen. Darauf sollten Fachkräfte vorbereitet sein!
Buchtipp!
Autor*innenkollektiv „Jugendliche ohne Grenzen“, koordiniert von Mohammed Jouni (2018): „Zwischen Barrieren, Träumen und Selbstorganisation. Erfahrungen junger Geflüchteter“. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Der Band versammelt Texte und Berichte geflüchteter Jugendlicher zu ihren Alltagserfahrungen in Deutschland, z. B. mit Rassismus, Helfer*innensystemen und Selbstorganisierung.
Online bestellbar unter:
https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-entdecken/gemeindepraxis/diakonie-und-soziale-arbeit/27387/zwischen-barrieren-traeumen-und-selbstorganisation
Mohammed Jouni
Literaturverzeichnis
- Herriger, N. (2006): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Stuttgart, Deutschland: Kohlhammer.
- Michel-Schwartze, B. (2009): Methodenbuch Soziale Arbeit: Basiswissen für die Praxis (German Edition) (2., überarb. u. erw. Aufl. 2009 Aufl.). Wiesbaden, Deutschland: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Jagusch, Birgit ; Chehata, Yasmine (2020): Empowerment und Powersharing : Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen. Weinheim, München: Juventa Verlag GmbH. (S. 289 – 301)
- Melter, Claus (2005): „Wenn du mich gefragt hättest, hätte ich es dir erzählt.“ Über die (fehlende) Thematisierung von Rassismuserfahrungen und Zugehörigkeitsfragen in der ambulanten Jugendhilfe. Migration und Soziale Arbeit, (3/4), (S. 278 – 282).
- Autorenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen«; Jouni, Mohammed: Zwischen Barrieren, Träumen und Selbstorganisation (2018): Erfahrungen junger Geflüchteter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Webquellen
- Projekt Kompass F/ARIC-NRW e.V. (2018): Diskriminierungsschutz in der Sozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen. Prävention und Interventionen. Köln: Kompass F. (letzter Zugriff 25.12.2021) unter https://www.kompass-f.de/fileadmin/public/Redaktion/Dokumente/PDF/Kompass_F-Arbeitshilfe_Web.pdf
- Salehi-Shahnian, Natascha (2015): Powersharing: Was machen mit Macht?! (letzter Zugriff 25.12.2021) unter http://antifra.blog.rosalux.de/powersharing-was-machen-mit-macht/ Amadeu Antonio Stiftung (2016): »Einen Gleichwertigkeits- zauber wirken lassen …« Empowerment in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit verstehen-. (letzter Zugriff 25.12.2021) unter https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/empowerment-internet.pdf
Dieser Artikel gehört zum Arbeitstisch 1 des Fachtages “Vom Ankommen und Bleiben – Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen zwischen Innovation und Verstetigung” (2021):
Migrantische Selbstorganisation und Migrationssozialarbeit – Über Empowermentprozesse und (neue) Allianzen
Diesen Artikel finden Sie in der Dokumentation des Fachtages:
“Vom Ankommen und Bleiben – Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen zwischen Innovation und Verstetigung” (2021)
Für eine kostenlose Druckversion schreiben Sie an info@lafast-sachsen.net
[1] Um zu verdeutlichen, dass „Weißsein“ und „Schwarzsein“ keine biologischen Eigenschaften, sondern die Folge von Rassifizierungsprozessen sind und damit soziale Konstrukte bzw. politische Kategorien darstellen, wird weiß kursiv und Schwarz groß geschrieben. S. dazu z. B. das Glossar des Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit (IDA) unter: https://www.idaev.de/recherchetools/glossar
[2] Webseite von Jugendliche ohne Grenzen: http://jogspace.net/, Facebook: https://de-de.facebook.com/jogspace/
Screenshots: LaFaSt
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