Vom Ankommen in einer totalen Institution — Sächsische Erstaufnahmeeinrichtungen (und die Rolle Sozialer Arbeit)

von Susanne Kath, Help e.V. – Asylberatung für Geflüchtete im Erzgebirgskreis
und Annegret Weber, Sozialarbeiter*in mit beruflichen Erfahrungen in unterschiedlichen sächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen


Die verschärften Asylgesetzgebungen der vergangenen Jahre dehnten die (mögliche) Verpflichtung asylsuchender Menschen zum Leben in Landeserstaufnahmeeinrichtungen umfassend aus.

So gilt es, ein Ankommen hier vor dem Hintergrund tiefgreifender räumlicher und zeitlicher Beschränkungen zu bewältigen. Die Standorte sächsischer Erstaufnahmeeinrichtungen sind durch ihre abgeschiedene Lage in ländlichen Raum oder an Stadträndern gekennzeichnet. Umfassende Zugangsregelungen und -kontrollen limitieren die Möglichkeit nach Außenkontakten. Das Vorenthalten einer gesellschaftlichen Teilhabe manifestiert sich darüber hinaus durch eine ungenügende medizinische Versorgungssituation, die Anwendung des Sachleistungsprinzips, die bestehende Residenzpflicht, das Vorenthalten grundlegender Informationen und den Ausschluss von regulärem Bildungssystem und Arbeitsmarkt. Darüber hinaus stellen sich Fragen nach der (Nicht-)Realisierung eines angemessenen Gewaltschutzes, Verletzungen des Grundrechts auf Privatsphäre, den (tatsächlichen) Möglichkeiten zur Identifizierung besonderer Schutzbedarfe oder den Zugängen zu einer unabhängigen Asylverfahrensberatung.

Trotz der skizzierten Missstände erscheint ein (fachpolitischer) Diskurs über den Komplex sächsischer Erstaufnahmeeinrichtungen kaum vernehmbar zu sein.

Der Arbeitstisch setzte hier an. Aufbauend auf detaillierten Einblicken in die Lebens- und Unterbringungsbedingungen ausgewählter Einrichtungen wollten wir hier auch die kritische Reflexion zur Rolle und Funktion Sozialer Arbeit innerhalb der „Blackbox Erstaufnahmeeinrichtung“ anregen.


„Prinzip Zufall“

Der Arbeitstisch gab einen Einblick in die Arbeitsweise sächsischer Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE)am Beispiel zweier Camps unterschiedlicher Träger.

Auf Grundlage von Berichten aus dem Arbeitsalltag des HELP e.V., der im Erzgebirgskreis eine Asylberatung durchführt, sowie einer Sozialarbeiterin, welche direkt in EAEs tätig war, sollten folgende Fragestellungen diskutiert werden.

Welche Handlungsansätze bestehen bereits, um der sozialen Ausschließung im Komplex sächsischer EAEs entgegenzuwirken?

Da es den Mitarbeitern in den EAEs untersagt ist, Rechtsberatung durchzuführen, was dazu führt, dass in manchen Trägern nicht einmal ein Brief erklärt oder übersetzt werden darf, versuchen einige wenige Organisationen, denen diese Umstände bekannt sind, Beratung vor der EAE oder wenigstens in der Nähe anzubieten. Eine Beratung in der EAE ist an so hohe Voraussetzungen geknüpft (zum Beispiel muss es einen Zugang von außen geben, ohne die Sicherheitsschleuse zu passieren), dass in kaum einer sächsischen EAE Beratung von außen auf dem Gelände der EAE stattfinden darf.

Selbst, wenn es eine Beratung „in der Nähe“ gibt, ist diese dann oft kilometerweit entfernt oder in einem anderen Ort. Nicht selten hängt das Erreichen der kostenlosen Beratung mit einem finanziellen Einsatz (Busticket) zusammen, welcher vom geringen Taschengeld bestritten werden muss. Das größte Problem ist aber, dass die Leute Kenntnis von der Beratungsstelle haben müssen.

Leider kann auch nach der Diskussionsrunde am Arbeitstisch konstatiert werden, dass der Begriff „black box“ der Realität entspricht. Nur wenige ehrenamtliche Gruppen haben den Zugang in die Lager geschafft, weitere Beratungsinstanzen bezüglich Asylverfahren haben den sprichwörtlichen Fuß nur phasenweise in den Einrichtungen.

So ist die Versorgung der dort lebenden Menschen lückenhaft und hängt vom Prinzip Zufall ab. Viele Versuche in der Vergangenheit, mobile Beratung vor Ort anzubieten, scheitert oft an Kapazitäten ehrenamtlicher Initiativen und sind oft nur für einen kurzen Zeitraum aktiv.

Welche (strukturellen) Veränderungsbedarfe bestehen bezüglich der (sozialarbeiterischen) Unterstützungsangebote?

Wichtigster Bedarf ist der Zugang eben dieser Unterstützungsangebote in die Einrichtungen. Solang jedoch die Landesdirektion als Hausherrin entscheidet, wer Zugang zu den Einrichtungen bekommt (und dies in der Vergangenheit auch unter anderem mit den Worten „Dieser Verein ist zu politisch“ abgelehnt hat), kann nicht von einer adäquaten Versorgung mit z. B. rechtlichem Beistand gesprochen werden.

Des Weiteren muss seitens der Betreiber die Verpflichtung bestehen, ihr Personal grundlegend und fortwährend zu schulen und im Umgang mit den Fragestellungen und Bedarfen der Bewohner*innen sicher aufzustellen. Hierzu gehören Schulungen zu Deeskalation, institutionellem Rassismus, Grundlagen des Asylrechts aber auch zu weiteren Beratungsbedarfen wie häusliche Gewalt, Kinderschutz, Drogen etc.

Diese Verpflichtung wird in den Verträgen zwischen Landesdirektion und Betreibern ausdrücklich beschrieben. Das Monitoring fehlt.

An welche Personengruppen gälte es diese Bedarfe (noch) zu adressieren?

Wichtigster Adressat*innen sind zum einen politisch Verantwortliche, die diese Missstände kennen und sich aktiv für eine Optimierung der Zustände einsetzen müssen. Da in sächsischen EAEs strukturell Gesetz gebrochen wird, ist auch von Seiten anderer Akteur*innen auf diesem Feld immer wieder aktiv darauf hinzuweisen. Zum anderen gilt es, gut ausgebildeten Sozialarbeiter*innen davon zu überzeugen, in diesen Einrichtungen zu arbeiten. Nur mit professionellem Selbstverständnis kann dieser strukturellen Unterversorgung mit Angeboten sozialarbeiterisch entgegengewirkt werden.

Welche Bedeutung ist etwaigen Vernetzungsmöglichkeiten
und – bedarfen beizumessen?

Eine solide Vernetzung und die Eingebundenheit von sozialarbeiterisch Tätigen in Arbeitskreise kann zur Professionalisierung des Tätigkeitsfeldes Soziale Arbeit in EAEs beitragen. Die dort Tätigen erlangen Sicherheit im Argumentieren und Tun.

Wem könnte dabei eine Rolle zukommen?

Im Grunde sind alle Menschen, die von den Zuständen in den EAEs Sachsens wissen aufgerufen, diese der Öffentlichkeit zu präsentieren und nötigenfalls zu skandalisieren. Solang die Betreiber gemeinsam mit der Landesdirektion die Dinge „im Stillen“ verwalten, wird sich die Situation für die dort untergebrachten Menschen nicht ändern.

Ein erstrebenswerter Ansatz könnte es sein, aktiv und positiv mit strukturierten Weiterbildungskonzepten und konkreten (unpolitischen) Angeboten auf die Betreiber zuzugehen. Realistisch betrachtet, müssen dazu Fachkräfte, Zeit und Geld mitgebracht werden. Sind derartige Angebote von einer politischen Stelle oder weisungsbefugten Institution abgesegnet, kann das ein Weg sein.

Ausgehend von konkreten Fallbeispielen der Beratungsstelle, welche im Bezug zur eingeschränkten Gesundheitsversorgung und eingeschränktem Gewaltschutz in den Einrichtungen standen, wurde die institutionelle Verankerung der Einrichtungen (unterstehend dem Innenministerium und damit der Landesdirektion Sachsen) und den sich daraus ergebenden Verantwortlichkeiten dargestellt. Es wurde deutlich, dass der Begriff „black box“ auch daraus resultiert, dass die Mitarbeitenden in den Lagern keine oder nur wenig Vernetzungsmöglichkeiten nach außen haben bzw. nutzen. Die hohe Fluktuation in den Teams und die fehlende Professionalisierung einmal durch grundlegende sozialarbeiterische Ausbildung zum anderen durch fehlende Weiter- und Fortbildungsmöglichkeiten sind ein gewichtiger Grund dafür.

Lösungsorientiert gälte es diese Missstände direkt an das Sächsische Innenministerium bzw. die Landesdirektion Sachsen zu adressieren. Unbedingt gilt es jedoch auch die Träger bzw. Betreiber der Lager in die Pflicht zu nehmen, bestehende Gewaltschutzkonzepte nicht nur vorzuhalten, sondern in den einzelnen Einrichtungen auch zu prüfen, zu evaluieren und fortwährend zu optimieren. Unabdingbar scheint hier die Schulung der Mitarbeitenden bezüglich gesetzlicher Notwendigkeiten.

Da aus den Einrichtungen und ihrer Betreiber heraus wenig bzw. keine Bestrebungen erkennbar waren und sind, gilt es, von außen zu wirken. Ein erster positiver Ansatz ist das Wirken ehrenamtlicher Gruppen, welche bereits teilweise in den Einrichtungen tätig sind. Des Weiteren muss es von außen maßgeschneiderte Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote für die Betreiber geben, welche in den Arbeitsalltag gut zu integrieren sind.

Veränderungen müssen von außen angeregt und eingefordert werden. Der ökonomische Druck, der auf den Betreiber*innen lastet, verhindert ein konzeptionelles Vorgehen mit dem Ziel der Versorgung der geflüchteten Menschen über Brot, Bett und Seife hinaus.

Ein erster Schritt hin zu mehr Vernetzung und Professionalisierung der in EAEs tätigen Personen könnte ein Kreis von „Whistleblowern“ sein, welcher lösungsorientiert an einer Art Fort- und Weiterbildungskatalog arbeitet und diesen in der Folge Verantwortlichen in den EAEs anbietet. Interesse an der Mitwirkung an einem solchen wurde im Workshop von vielen Beteiligten signalisiert.

Susanne Kath, Annegret Weber

Diesen Artikel finden Sie in der Dokumentation des Fachtages:

“Soziale Ausschließung, Widerständigkeiten und die Rolle der Geflüchtetensozialarbeit” (2022)

Für eine kostenlose Druckversion schreiben Sie an info@lafast-sachsen.net

Workshop 1-B des Fachtages „Soziale Ausschließung, Widerständigkeiten“

Fotos: Guillaume Robin / LaFaSt


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