Fachstandards in der FSA konkret — grenzen wir Klient*innen in den Arbeitsbeziehungen mit ihnen aus?

von Matthias Wengler, Marlene Strecker, Holger Simmat und Marion Gemende, Sprecher*innen der LAG FSA/MSA


In Anbetracht des Titels des Fachtags „Soziale Ausschließung, Widerständigkeiten und die Rolle der Geflüchtetensozialarbeit“ hatten wir die Idee, den Blick auf Ein- bzw. Ausgrenzungen in den Arbeitsbeziehungen in der FSA zwischen Fachkräften und Adressat*innen – die in der Regel geflüchtete Menschen sind, aber auch andere Migrant*innen sein können – zu richten. Die LAG FSA/MSA hat im Rahmen ihrer Diskussion um Fachstandards unter anderem Aufgaben der Geflüchtetensozialarbeit bestimmt. Dort wird auch – sehr grundlegend – die Beziehungsarbeit und damit der „Aufbau eines Vertrauensverhältnisses als Grundlage für die Zusammenarbeit mit Klient*innen“[1] benannt, was generell für die Soziale Arbeit gilt.

Wir stützten uns auf einen Text von Caroline Schmitt, die 2016 Arbeitsbeziehungen von Fachkräften mit jungen Geflüchteten untersucht, eine Typologie der sozialpädagogischen Beziehungsgestaltung von Fachkräften in der Fluchtmigrationsarbeit entwickelt und 2019 einen Text dazu veröffentlicht hat[2].

Mit Arbeitsbeziehungen wird die interaktive Ebene der professionellen Arbeit thematisiert, wobei hier nicht Inhalte der Beratung fokussiert werden, sondern die soziale Beziehung mit emotionalen und oft unbewussten Momenten, die durchaus auch unangemessen für die Klient*innen oder beobachtende Kolleg*innen sein können. Es war uns bewusst, dass die Thematisierung von Arbeitsbeziehungen damit nicht nur theoretische Aspekte (nach Schmitt) umfasst, sondern auch die persönlichen Erfahrungen der Teilnehmer*innen aktivieren kann – und sollte. Wir wollten die Erkenntnisse Schmitts also anhand der in der Praxis gemachten, an sich selbst oder bei anderen wahrgenommenen Erfahrungen der Teilnehmer*innen kritisch diskutieren und zum Schluss unbedingt auch in einen Zusammenhang zu strukturellen Rahmenbedingungen „guter Beziehungsarbeit“ stellen.


Zur Typologie der sozialpädagogischen Beziehungsgestaltung von Fachkräften in der Fluchtmigrationsarbeit nach Caroline Schmitt

Caroline Schmitt ist heute Professorin für Migrations- und Inklusionsstudien am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung an der Universität Klagenfurt. Die Arbeitsbeziehungen von Fachkräften mit jungen Geflüchteten sind relativ wenig untersucht. Schmitt hat zunächst Recherchen und Vorüberüberlegungen zu Flucht und zu Arbeitsbündnissen bzw. Arbeitsbeziehungen, insbesondere von Fachkräften im Kontext von Migration und Flucht angestellt. Danach führte sie 13 offene Leitfadeninterviews mit Fachkräften aus Clearingstellen (6), Folgeeinrichtungen (insbesondere Wohngruppen) (5), einer Gemeinschaftsunterkunft (1) und einer Asyl- und Verfahrensberatungsstelle (1) durch. Zum Sample ist weiterhin zu sagen, dass es sich um 12 weibliche und einen männlichen Interviewpartner handelte, von denen 11 Sozialpädagogik oder eine andere Pädagogik studiert haben oder zum Zeitpunkt des Interviews noch studierten. Die anderen waren eine ausgebildete Psychologin und eine Ethnologin/Linguistin. Die Interviewten waren zwischen 24 und 61 Jahren alt und verfügten über unterschiedlich lange Arbeitserfahrungen im Handlungsfeld.

Die Auswertung der Interviews erfolge mittels der Objektiven Hermeneutik nach Oevermann und sie führte letztlich zu der Typologie.

Die von Schmitt analysierten Beziehungstypen sind fünf: die anwaltschaftliche, die freundschaftliche, die ambivalente, die realitätsvermittelnde und die verbesondernde Beziehung.

Letztendlich ordnete sie den (anonymen) Interviewpartner*innen jeweils einen Typus zu.

In der folgenden Tabelle hat die Autorin nach den herausgearbeiteten Vergleichskriterien Perspektive auf die Adressat*innen, Rollenverständnis (der eigenen Tätigkeit bzw. des professionellen Handelns), (Art der) Beziehungsgestaltung, Nähe-Distanz-Regulierung, Austausch im Team und Kooperationen die rekonstruierten Typen als Überblick zusammenfassend dargestellt (Schmitt 2019, S. 497):


Quelle: Caroline Schmitt

Zu erwähnen ist erstens, dass die Tabelle nur mit den ausführlicheren Interpretationen der und mit den wörtlichen Zitaten aus den Interviews gut zu verstehen ist. Sie können im Text nachgelesen werden.

Bemerkenswert ist zweitens, dass Schmitt nicht nur die Beziehungen zu den Adressat*innen im engeren Sinne untersucht hat, sondern sie bewusst diese auch in Bezug setzte zu den jeweils gestalteten professionellen Beziehungen im Team und zu den Kooperationen, die (notwendiger Weise) in der Arbeit mit Geflüchteten strukturell zu gestalten sind. Bemerkenswert ist dabei, dass lediglich zwei Typen (der anwaltschaftliche und der realitätsvermittelnde) tatsächlich strukturelle Kooperationsbeziehungen aufbauten bzw. nutzten, so schwer das auch in der Praxis ist (teils werden die strukturellen Verhältnisse als „chaotisch“ und „begrenzt“ bezeichnet, so dass sie dann eher umgangen oder unterlaufen werden bzw. über eher persönliche Beziehungen bzw. Ehrenamt versucht wird, die Ressourcen von Schule, Ausbildung, Ausländerbehörde bzw. Ausländeramt, Sozialamt usw. zu erschließen).

Idealerweise lässt sich feststellen: „Beziehungen mit ausbalanciertem Nähe-Distanz-Verhältnis finden sich unter Bedingungen guter Vernetzungs- und Kooperationsstrukturen, spezifischer Arbeitsaufträge und in Teams mit hoher Reflexionsfähigkeit, regelmäßigem Austausch und Raum zur Psychohygiene: […] Geflüchtete kann professionell unterstützen, wer selbst unterstützende Arbeitsbedingungen erfährt“ (ebd., S. 505).


Ziele und Ablauf des Workshops

Als Ziele für den Workshop nahmen wir uns als Workshopleiter*innen vor,

  • dass die Teilnehmer*innen die Typologie der Arbeitsbeziehungen nach Schmitt im Überblick kennen und sie mit ihren Erfahrungen im Prozess anreichern und hinterfragen,
  • dass Rahmenbedingungen, die „guten“ Arbeitsbeziehungen förderlich sind und eingefordert werden sollten, benannt werden,
  • dass der Prozess deutlich machen kann, dass die Typen in der sozialen Wirklichkeit nicht (unbedingt) idealtypisch auftreten, sondern dass sie die Vielfalt von Arbeitsbeziehungen und ihrer Ausgestaltung aufzeigen; dass dabei einzelne Aspekte durchaus Ressourcen in der Beziehungsgestaltung sind (wie z. B. die Realitätsvermittlung oder die Kultursensibilität), aber auch Gefahren für Ausgrenzung und Überlastung bedeuten können (wie z. B. die Kulturalisierung, Assimilationsdruck, Allzuständigkeit statt Kooperation im Team und in Netzwerken).

Um diese Ziele zu erreichen, versuchten wir zunächst, die Teilnehmenden auf das Thema einzustimmen, wir stellten anhand der Tabelle und mit Hilfe des Textes von Caroline Schmitt die von ihr erarbeitete Typologie vor und baten die Kolleg*innen, in drei Kleingruppen über die Typen ins Gespräch zu kommen und sich die wichtigsten Diskussionsstränge zu notieren. Für die Diskussion konnte der folgende Impuls genutzt werden: Was sagen Sie zu der Typologie? / Kennen Sie solche „Typen“ – wenn ja, inwiefern? / Haben Sie sie an sich selbst beobachtet? / Welche Erfahrungen haben Sie mit dieser Typologie?

Wir konnten in den Gruppen eine lebhafte Unterhaltung feststellen. Im Plenum wurden dann die wichtigsten Gruppenthemen vorgestellt und weiter diskutiert. Dabei sollte auch der zweite Impuls unterstützend sein: Welche von Schmitt analysierten Handlungsorientierungen bzw. Praktiken der Typen finden Sie eher nützlich/hilfreich für die Arbeit mit den Adressat*innen, welche finden Sie eher ausgrenzend?

Die Debatte war intensiv und auch kontrovers. Einige Teilnehmenden konnten mit einer Typologie (die sie sehr zusammengefasst in der Tabelle vorfanden) nicht gut arbeiten, sie fanden sie verkürzt und plakativ. Andere fanden die Typologie und die formulierten Einzelaspekte anregend für die Reflexion der eigenen Praxis und für deren weitere, bewusste Gestaltung. Entsprechend wurde auch versucht, die skeptischen Kolleg*innen für die Typologie und ihren praktischen Sinn argumentativ zu gewinnen.

Letztendlich wurden Rahmenbedingungen für „gute“ Beziehungsarbeit zusammengetragen.


Wichtigste Erkenntnisse

Aus der Diskussion lernten wir das Folgende:

  • Die Typologie von Caroline Schmitt könnte nahelegen, dass der anwaltschaftliche Beziehungstyp der anzustrebende sei, während die anderen eher auf assimilierende oder kulturalisierende Bilder von Adressat*innen, zu nahe oder zu distanzierte Beziehungen zu ihnen, zu hohe/alleinige Präsenz in der Arbeit mit ihnen, statt im arbeitsteiligen Austausch im Team und in Kooperationsstrukturen zu sein, verweisen könnten. Stattdessen kann sich die Typologie auch als Mix von Orientierungen und Praktiken lesen lassen, die je nach Situation der verschiedenen Klient*innen, eines einzelnen Menschen im Beratungsprozess und auch je nach Typ des*/der* Professionellen sinnhaft sein können. Immer wird es darum gehen, die Menschen als Subjekte mit Rechten sehen zu können und ihnen Teilhabe durch Hilfe zur Selbsthilfe zu vermitteln. Dabei sind anteilnehmende Nähe (gerade auch bei besonders vulnerablen Gruppen), die Erschließung von Ressourcen durch (auch eigenes und angeleitetes) Ehrenamt und politische Stellungnahme, die Konfrontation mit der Realität und Sachlichkeit sowie Kultursensibilität in den Arbeitsbeziehungen situativ und vor allem auch im Team geteilt notwendige Momente im professionellen Handeln. Gleichzeitig können sie – unreflektiert – zu Stolpersteinen in der Arbeit mit geflüchteten Menschen und für die Gesundheit der Professionellen werden.
  • Das folgende Zitat aus dem Workshop spricht für sich: „Wenn kommunale Strukturen zu langsam sind, braucht man ambivalente Typen.“
  • Als Rahmenbedingungen für „gute Beziehungsarbeit“ wurden genannt: Fachstandards, die im Team bzw. beim Träger benannt und bekannt sind und diskutiert werden, dazu gehören unter anderem „der Kampf“ um einen angemessenen Personalschlüssel, kollegiale Fallarbeit und Supervision, transparente und systematische Team- und Netzwerkarbeit, interkulturelle Kompetenz der ausgebildeten Fachkräfte u.a.

Letztendlich war die Typologie der sozialpädagogischen Beziehungsgestaltung von Fachkräften in der Fluchtmigrationsarbeit nach Caroline Schmitt anregend für die Reflexion des professionellen Handelns im Workshop. Wir danken den Teilnehmer*innen für ihre Offenheit und Diskussionsfreude!

Matthias Wengler, Marlene Strecker, Holger Simmat und Marion Gemende

Diesen Artikel finden Sie in der Dokumentation des Fachtages:

“Soziale Ausschließung, Widerständigkeiten und die Rolle der Geflüchtetensozialarbeit” (2022)

Für eine kostenlose Druckversion schreiben Sie an info@lafast-sachsen.net


[1]  Positionen der LAG zur Flüchtlingssozialarbeit, 4. Aufgaben der Flüchtlingssozialarbeit. http://lag-migration-sachsen.org/ (5.1.2023).

[2]  Schmitt, Caroline (2019): Arbeitsbeziehungen mit jungen Geflüchteten. Pädagogische Fachkräfte zwischen anwaltschaftlicher Vertretung und verbesondernder Stigmatisierung. In: Neue Praxis, H. 6, S. 491–509.

Workshop 2-G des Fachtages „Soziale Ausschließung, Widerständigkeiten“

Fotos: Guillaume Robin / LaFaSt


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