Das Projekt „MAQAM – Ankommen im Leipziger Westen“

von Franziska El Makhloufi, Projektleitung „MAQAM – Ankommen im Leipziger Westen“ des Mütterzentrum Leipzig e.V.


Eine Projektidee wird geboren

Durch zahlreiche Gespräche mit Familien, durch eigene biographische Erfahrungen sowie durch unsere fachliche Beschäftigung mit dem Thema Transkulturalität wurden wir auf die spezifische Situation migrantischer und bikultureller Familien und ihre Bedürfnisse aufmerksam.

Wir erfuhren, dass sich viele Eltern mit Migrationserfahrung gerade in der Phase der Familiengründung sozial isoliert fühlen und besonders schmerzlich die Unterstützung ihrer Herkunftsfamilie und -kultur vermissen. Teilweise sind ihnen die stark institutionalisierten Formen der Kleinkindbetreuung in Deutschland fremd oder ihnen sind die verschiedenen Möglichkeiten und deren jeweilige Zugangsbedingungen unbekannt – ganz davon abgesehen, dass in Zeiten fehlender Betreuungsplätze migrantische Familien bei der Platzvergabe strukturell benachteiligt sind.

Außerdem sehen sich Familien mit Migrationserfahrung durch die Geburt eines Kindes dringender mit der Frage konfrontiert, welche Rolle in ihrer Familie Herkunft und Kultur spielen sollen. Es kommen beispielsweise ganz praktische Fragen zur (inter)religiösen Erziehung, familiären Mehrsprachigkeit, kulturell verschiedenen Erziehungskonzepten und Rollenmodellen oder zum Umgang mit rassistischen Erfahrungen auf.

Für diese sich neu oder dringender stellenden Fragen finden die migrantischen und bikulturellen Familien oft weder in den üblichen Elternkursen noch in anderen Krabbel- und Spielgruppen geeignete Gesprächspartner mit ähnlichem biographischen Hintergrund. Auch wenden sich diese Familienbildungsangebote nicht explizit an Familien mit Migrationserfahrung, wodurch sie sich nicht wahrgenommen und eingeladen fühlen. Insbesondere bei migrantischen Familien entsteht der Eindruck, dies seien ‚deutsche‘ Veranstaltungen.

Aus diesen Überlegungen entstand die Idee, in unserem Familienzentrum in Plagwitz ein spezifisches Angebot für Familien mit Migrationserfahrung zu entwickeln, welches interkulturelle Eltern gewissermaßen doppelt begleiten will und zwar zum Einen auf ihrem Weg ins Elternsein und zum Anderen auf ihrem Weg in die deutsche Gesellschaft.

Angesichts eines zunehmenden Zuzugs von Migranten nach Leipzig und dem gleichzeitigen Erstarken populistischer und demokratieskeptischer Meinungen sollte sich das MAQAM-Projekt aber nicht etwa exklusiv an migrantische Familien wenden. Vielmehr sollte es sich zu einem Ort der Begegnung von Familien mit und ohne Migrationserfahrung entwickeln, helfen Vorurteile abzubauen, die wechselseitige Akzeptanz zu erhöhen und so langfristig das gelingende Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationserfahrung fördern.


Woher wir kommen.
Das MAQAM – Projekt als ein Kind der Mütterzentrums-Kultur

Als wir gemeinsam das MAQAM – Projekt entwickelt haben, war es uns vor allem wichtig, eine wertschätzende, dialogische Haltung gegenüber allen Eltern einzunehmen, Begegnung und Austausch zwischen den Eltern zu fördern und unsere Vielfalt gemeinsam als Bereicherung zu erleben. In diesem Sinne ist für uns unsere interkulturelle Familienbildungsarbeit immer aufs engste mit der spezifischen Konzeption, Methode und Haltung verbunden, die seit 30 Jahren in den Familienzentren des Mütterzentrum e.V. Leipzig gelebt und weiterentwickelt wird.


Unser Träger: der Mütterzentrum Leipzig e.V.

Im Konzept unseres Vereins und der Kindergärten in unserer Trägerschaft spielen Werte wie gegenseitiger Respekt und Toleranz und die positive Annahme und Wertschätzung der Mitmenschen eine zentrale Rolle.

Ein Grundprinzip unserer Arbeit ist dabei die Hilfe zur Selbsthilfe, d.h. wir stärken und erhöhen das Potenzial der Eltern, fördern eine innige und vertrauensvolle Beziehung zwischen Eltern und Kindern und vermitteln Werte und Rituale, die das gesunde Zusammenleben in der Familie, in der Gesellschaft und der unmittelbaren Umwelt unterstützen.

Wir machen den Eltern Verantwortung für das eigene Leben, das der Kinder und unserer Umwelt bewusst, fördern Konfliktfähigkeit und Mut zur Auseinandersetzung.


Die Idee bekommt einen Raum – das Familienzentrum
„Treffpunkt Linde“ in Plagwitz

Unser Familienzentrum bietet Raum und Zeit für Eltern und Kinder in der Elternzeit. Eltern erleben hier eine offene Willkommensatmosphäre, können sich ungezwungen kennenlernen und den Alltag miteinander leben.

Wir verstehen dabei unser Familienzentrum als Begegnungs- und Bildungsraum, in dem Eltern sich selbstwirksam beteiligen und Wertschätzung erfahren können und Erwachsene und Kinder mit ihren individuellen Bedürfnissen wahrgenommen werden.

Das Familienzentrum „Treffpunkt Linde“ besteht aus einem Familiencafé im Stil einer geräumigen Wohnküche, Spiel-, Kurs- und Beratungsräumen sowie einem großzügigen, üppig grünen Garten mit Spielmöglichkeiten. Hier gibt es Hebammen- und PEKiP-Kurse, Krabbel- und Spielgruppen, Präventive Gesundheitsangebote sowie verschiedene Beratungsangebote.


Kurzvorstellung des MAQAM – Projekts

Unser Modellprojekt „MAQAM – Ankommen im Leipziger Westen“ richtet sich an Familien mit und ohne Migrationserfahrung, d.h. an migrantische, bikulturelle und deutsche Eltern und ihre Kinder im Alter zwischen 4 Monaten und 6 Jahren.

Bereits der arabische Projekttitel „Maqam“, der auf Deutsch „Ankommen“ bedeutet, verweist auf das wichtigste Projektziel: Inklusion, Integration und gesellschaftliche Teilhabe der teilnehmenden Familien nachhaltig zu fördern. Ziel ist es, interkulturelle Eltern gewissermaßen doppelt zu begleiten und zwar zum Einen auf ihrem Weg ins Elternsein und zum Anderen auf ihrem Weg in die deutsche Gesellschaft.

Unter Anwendung von Methoden der frühkindlichen und vorschulischen Familienbildung, der systemischen Beratung und Elternbegleitung sowie der antirassistischen und vorurteilsbewussten Bildungsarbeit geht es uns darum, die Ressourcen und Potentiale von Familien mit und ohne Migrationserfahrung zu aktivieren und zu stärken und zugleich die Eltern in der Entwicklung ihrer Erziehungskompetenz zu begleiten.

Um den Eltern und ihren Kindern möglichst niederschwellige Zugänge zu ermöglichen, haben wir für das „MAQAM“-Projekt vier Projektbausteine entwickelt, die verschiedene Formen von Familienbildung anbieten:

Interkultureller Krabbel- und Spieltreff
für Familien mit Kindern im Alter von 4 Monaten bis 3 Jahren

In unseren offenen Krabbel- und Spieltreffs erhalten Eltern vielfältige Anregungen für die alters- und entwicklungsgerechte Förderung der sprachlichen, kognitiven und motorischen Entwicklung ihrer Kinder:
Kinder und Eltern können anregende pädagogische Spielmaterialien ausprobieren und je nach Jahreszeit und Wetter entweder unsere Indoor-Bewegungslandschaft mit Bällebad, Kriechtunnel und Rutsche oder unseren blühenden Garten und den Sandkasten spielerisch erkunden. Gemeinsam werden deutsche und fremdsprachige Kinderlieder und Reime, Finger- und Bewegungsspiele gesungen und gespielt. Und durch die Treffleiterinnen werden immer wieder besonders ansprechende Bilderbücher für die Kleinsten vorgestellt.

Interkultureller Spiel- und Vorschultreff
für Familien mit Kindern im Alter von 4 Monaten bis 6 Jahren

Unsere Interkulturellen Vorschultreffs bieten Eltern verschiedene Anregungen, wie sie die sprachliche, kognitive und feinmotorische Entwicklung ihrer Vorschulkinder im Hinblick auf den bevorstehenden Schulbesuch in Deutschland fördern können:
Eltern und Kinder können gemeinsam verschiedene Bücher, Materialien und spielerische Aktivitäten kennenlernen und ausprobieren. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf niederschwelligen Angeboten der sprachlichen Bildung und Leseförderung, unter besonderer Berücksichtigung und Wertschätzung der Zwei- und Mehrsprachigkeit der Kinder und ihrer Familien. Damit auch Familien mit jüngeren Geschwisterkindern den Vorschultreff besuchen können, werden zeitgleich auch Angebote für die jüngeren Kinder gemacht.

Der geschützte Rahmen dieser sich regelmässig treffenden Gruppen interkultureller Familien soll es den TeilnehmerInnen und ihren Kinder ermöglichen, Interkulturalität als geteilte Normalität, als Verbindendes und Bereicherndes zu erfahren und damit auch Fremdheitserfahrungen in der mehrheitlich deutschen Gesellschaft zu kompensieren. Vor allem soll er den Familien mit Migrationserfahrung die Möglichkeit bieten, in den Gesprächen mit anderen interkulturellen Eltern ihre spezifische Lebenssituation zu reflektieren, sich über verschiedene Handlungs- und Lösungswege auszutauschen und Selbsthilfestrukturen zu entwickeln.

Interkulturelle Elternbegleitung
für Familien mit Kindern im Alter von 4 Monaten bis 6 Jahren

Während der Sprechzeiten können sich Eltern zu vielfältigen familienbezogenen Themen sowie zu weiterführenden Beratungs- und Unterstützungsangeboten informieren.

Unser niederschwelliges Angebot der Interkulturellen Elternbegleitung nutzen Eltern vor allem bei Fragen zum KITA-Besuch ihrer Kinder sowie bei Erziehungs- und Partnerschaftsproblemen. Bei den beiden letztgenannten Themenfeldern liegt eine wesentliche Aufgabe der Elternbegleitung in der ersten Sichtung der Fragen der Eltern und einer kompetenten Verweisberatung, beispielsweise an Familienberatungsstellen.

Gegenwärtig spielen in der Interkulturellen Elternbegleitung, sowohl in der Sprechzeit als auch während der offenen Treffs, die Erfahrungen der Familien während der Corona-Pandemie, die mit ihr verbundenen Ängste und materiellen Sorgen, die Herausforderungen durch Quarantäne und Hygieneverordnungen etc. eine große Rolle.

Buchtipps für Familien mit Kindern im Alter von 2 bis 6 Jahren als BUCHMONTAG auf der Instagram- und Facebook-Seite des Familienzentrums

Als digitale Ergänzung der Interkulturellen Spiel- und Vorschultreffs werden wöchentlich besonders ansprechende Bücher für die o.a. Altersgruppe auf Instagram und Facebook vorgestellt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Sprach – und Leseförderung, aber auch die Vermittlung von Selbstwahrnehmung, sozialer Kompetenz und Sachwissen spielen bei der Titelauswahl eine wichtige Rolle.

Die verschiedenen Angebote unseres „MAQAM“-Projekts wurden bisher schon von Familien aus Algerien, Afghanistan, Australien, Chile, China, Brasilien, Deutschland, Eritrea, Estland, Frankreich, Großbritannien, Indonesien, Italien, Japan, Kenia, Libyen, Malaysia, Marokko, Mexiko, Polen, Pakistan, Palästina, Rumänien, Russland, Senegal, Serbien, Syrien, Türkei, Tunesien, USA und Vietnam besucht. Insgesamt konnten wir also bereits Familien aus 31 Ländern durch unser informelles Bildungsangebot erreichen, so dass wir ein wichtiges Projektziel, das gegenseitige Kennenlernen und der Austausch zwischen Familien mit und ohne Migrationserfahrung, realisieren konnten.

Aus den Feedback-Gesprächen mit den teilnehmenden Eltern haben wir erfahren, dass ihnen die offene und wertschätzende Atmosphäre in unseren Angeboten sowie die Möglichkeiten zu Austausch und Kommunikation gefallen. Sie genießen die Quality Time mit ihren Kindern, die vielfältigen Anregungen und Impulse sowie die Gespräche mit anderen Eltern. Vielfach sind aus diesen Begegnungen gegenseitige Unterstützung und Freundschaften entstanden.


Wie schafft man einen Raum für Begegnung

Diese Frage war für uns sowohl für die Konzeption unserer Angebote als auch für ihre Umsetzung von zentraler Bedeutung. Insbesondere weil unser Angebot kein klassischer Elternkurs sein sollte, sondern die Ermöglichung von Begegnung und Austausch zwischen Familien mit verschiedenen kulturellen und biographischen Erfahrungshorizonten.

Zusammengefasst unter dem Begriff „Diversitätskompetenz“ finden sich einige Fähigkeiten, die unserer Meinung nach ungemein wichtig für das Gelingen eines solchen Projektes sind. Dazu gehören Empathie und Offenheit, Selbstreflexivität und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, Flexibilität und die Fähigkeit, Unsicherheiten, Uneindeutigkeiten und Unterschiede auszuhalten und schließlich auch, sich Wissen über verschiedene Kulturen, Religionen und ihre Kommunikationsformen anzueignen.

Für uns bedeutet das ganz praktisch, dass wir allen Familien offen und einfühlsam begegnen, wir erst einmal zuhören und nicht bewerten, Unterschiede akzeptieren und unsere Vielfalt als Chance begreifen. Dies zeigt sich beispielsweise in der bewussten Mehrsprachigkeit unserer Treffs, in denen neben dem Deutschen die verschiedenen Muttersprachen der Familien ganz selbstverständlich willkommen sind und wir alle Familien einladen, Kinderlieder oder -reime in ihrer Muttersprache für unsere gemeinsame Singerunde mitzubringen. Dafür ist es natürlich hilfreich, dass wir als Treffleiterinnen selbst verschiedene Sprachen sprechen, von Sprach- und KulturmittlerInnen unterstützt werden und verschiedene Bildwörterbücher angeschafft haben. Neben unserer Liedersammlung haben wir auch unsere Kinderbücher und Spielmaterialien so ausgewählt, dass sie die sprachliche, kulturelle und ethnische Vielfalt der Eltern und Kinder widerspiegeln. Außerdem haben wir uns Hintergrundwissen zu den Themen interkulturelles Familienleben, mehrsprachige Erziehung und Interreligiösität angeeignet. Vor allem haben wir versucht, unseren eigenen Erfahrungshorizont bewusst zu überschreiten und uns gegenüber anderen Lebenswelten zu öffnen, weil aus unserer Sicht nur so die Begleitung von Entwicklungsprozessen gelingen kann.


Franziska El Makhloufi

Dieser Artikel gehört zum Arbeitstisch 5 des Fachtages Flüchtlingssozialarbeit auf dem Weg der Integration von Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund– Entwicklungen, Positionierungen, (Heraus)Forderungen (2020):

Begegnung ermöglichen als methodische Herausforderung sozialer Integration

Diesen Artikel finden Sie in der Dokumentation des Fachtages:

Flüchtlingssozialarbeit auf dem Weg der Integration von Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund– Entwicklungen, Positionierungen, (Heraus)Forderungen” (2020)

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