Aktuelle Entwicklungen von Zielgruppen und Aufgaben der FSA im Kontext von Integration im ländlichen Raum Sachsens am Beispiel Rothenburg OL (Landkreis Görlitz)

von Marika Vetter, FSA`lerin, Diakonie Sankt Martin Rothenburg


Flüchtlingssozialarbeit in der Diakonie St. Martin

Die Flüchtlingssozialarbeit in der kleinen Stadt Rothenburg OL für dezentral untergebrachte Familien mit Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Söhnen und Töchtern sowie einzelne, alleinreisende Männer wurde von Mai 2014 bis Mai 2021 vom Mehrgenerationenhaus Rothenburg der Diakonie St. Martin umgesetzt. 90 Prozent der begleiteten Flüchtlinge befinden sich im Asylverfahren sowie im Duldungs-Status. 2020/2021 werden und wurden rund 60 Menschen begleitet.

Mehrgenerationenhaus Rothenburg OL, Diakonie Sankt Martin Rothenburg

Im Landkreis Görlitz lebten mit Stand 30.09.2018 (Statist. Landesamt des Freistaates Sachsens) 4,4 Prozent MigrantInnen unter der Gesamtbevölkerung. Dies entsprechen rund 12.500 Personen. Unter diesen Personen befinden sich rund 8 Prozent Asylbewerber und Geduldete (Stand Nov ´20).


Herausforderungen im ländlichen Raum – zentrale, aktuelle Punkte

Für Flüchtlinge gibt es verschiedene, zentrale Herausforderungen, wenn sie Wohnungen im ländlichen Raum zugewiesen werden. Als Mehrgenerationenhaus in Rothenburg wurde uns immer wieder von unseren KlientInnen zurückgemeldet, dass vor allem der ÖPNV, der für die Mobilität benötigt wird, teuer, zeitintensiv und mangelhaft in der Verfügbarkeit ist. Sie betonten unter anderem, dass es eine geringe Vielfalt an spezifischen Beratungs- und Freizeitaktivitätsangeboten in einer Kleinstadt wie Rothenburg gibt. Weiterhin fehlt ihnen die eigene Community als Basis des Wohlfühlens. Sie fühlen sich selbst als Paradiesvögel im ländlichen Raum, die in der Öffentlichkeit durch ihr „fremdes“ Äußeres immer wieder angestarrt werden. Eine wiederkehrende zentrale Thematik ist und war immer wieder der Wohnortwechsels in größere Städte.


Aktuelle Entwicklungen für die Integrationssituation im ländlichen Raum

Als Mehrgenerationenhaus Rothenburg bemerken wir, dass weniger neu zugewiesene Asylsuchende zu verzeichnen sind. Die Asylsuchenden, die wir begleiten, stehen vor komplexen Herausforderungen in Bezug auf ihr eigenes Asylverfahren. Dabei ist eine aktuelle Entwicklung, dass häufig für die Kinder (über 16 Jahre) ein Aufenthalt nach §25a AufenthG erfolgreich beantragt wird. Wir vermerkten aber auch, dass es in dieser Zielgruppe nach Beginn der Ausbildung zu rund 50% Ausbildungsabbrüchen (mit Umorientierungen) kam. Mögliche Ursachen sehen wir darin, dass Ausbildungen angenommen wurden, weil es Ausbildungszusagen gab, jedoch die Ausbildungen an sich nicht den eigenen Wünschen entsprachen und es im Verlauf zu Überforderungen, Abneigungen u.ä. kam.

Die KlientInnen und deren Fälle, die wir weitervermitteln und begleiten, sind langjährige, schwierige Asylverfahren. Wir können feststellen, dass die betroffenen Personen darunter leiden, sich ihre Persönlichkeit verändert und teilweise aggressive und depressive Verhaltensweisen entwickeln.

Als positive Entwicklungen sehen wir die Aneignung der deutschen Sprache. Wir stellen fest, dass in fast allen Familien oder bei Alleinreisenden gute bis sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache vorhanden sind. Damit einhergehend auch die mittlerweile gute bis sehr gute soziale und kulturelle Annäherung der Flüchtlinge/ MigrantInnen und der Einheimischen. Flächendeckend sind Vorurteile, Stereotype oder Ablehnungshaltungen unter der deutschen Mehrheitsgesellschaft sowie bei den MigrantInnen nicht völlig verschwunden, aber wir können ein gewisses gegenseitiges „einvernehmliches Gewöhnungs- und Akzeptanzverhalten“ feststellen. Dieser Punkt ist für den sozialen Frieden in einer Kleinstadt wie Rothenburg sehr zuträglich.

Als weitere positive Entwicklung sehen wir das abgestimmte Handeln innerhalb von Behörden, Einrichtungen der Gesundheitsversorgung und weiteren Institutionen wie Schulen, Kindertageseinrichtungen oder ähnlichen. Dabei spüren wir die positiven Effekte der Arbeit des Sachgebietes Integration mit den Kommunalen IntegrationskoordinatorInnen der Ausländerbehörde Görlitz, die unter anderem an einem Integrationskonzept für den Landkreis Görlitz aktiv mitarbeitet.

Trotzdem stellen wir auch fest, das MigrantInnen den Östlichsten Landkreis so schnell als möglich verlassen und verlassen wollen. Immer wieder bekommen wir Erfahrungsberichte von Flüchtlingen/ MigrantInnen geschildert, die weit über die Definition von Alltagsrassismus hinausgehen. Sie beschreiben uns Situationen in unserem Landkreis, die als verbal fremdenfeindlich und menschverachtend gewertet werden können bis hin zu gefährlichen rassistischen Übergriffen.


Zukünftige Anforderungen

  1. Die Ausländerbehörden setzen ihr Recht auf finanzielle Kürzungen bei fehlender Mitwirkung von Asylsuchenden (zentrales Thema: Vorlage Reisepass) um. Für Asylsuchende, auch mit Kindern, bedeutet dies in der letzten Konsequenz das Leben mit Warengutscheinen. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand bleibt die monetäre Zuwendung für die Kinder erhalten. Wir vermuten jedoch, dass dieses Geld der Kinder u.a. für die Mobilität im ländlichen Raum genutzt wird. Dieser Punkt sollte und muss für das Wohl der Kinder politisches Handeln nach sich ziehen.
  2. Die Zahl der Asylsuchenden in den Kommunen sehen wir für die kommenden Monate und Jahre gegen Null sinken. Die Einführung der Ankerzentren und die dortige Bearbeitung der Asylanträge sehen wir als Grund an. Kommunen werden kurz- und mittelfristig mit den Herausforderungen um die Thematik Asylsuchender nicht mehr konfrontiert sein. Eine Öffnung der Gesellschaft im Blick auf Vielfalt und Toleranz mit der Grundlage der Akzeptanz von Flüchtlingen wird nicht mehr in diesem Maß Beachtung und Bearbeitung finden.
  3. Weiterhin stellen wir uns die Frage, ob der ländliche Raum generell für MigrantInnen attraktiv sein kann bzw. wird. Wir fokussieren dabei auf die fehlende Infrastruktur. Einsparungen bzw. auch fehlende finanzielle Möglichkeiten in den Kommunen werden sich nicht positiv auf die infrastrukturelle und kulturelle Entwicklung auswirken.
  4. Das Land Sachsen ist im Prozess ein Teilhabe- und Integrationsgesetz zu erarbeiten. Mit welchen Qualitätsstandards und welcher finanzieller Grundlage dabei auch eine Migrationssozialarbeit initiiert wird bzw. auf die bestehende Migrationsberatung (MBT, JMD) gesetzt wird, bleibt abzuwarten.
  5. Einen Fokus im Rahmen der Sozialen Arbeit mit MigrantInnen wird in den nächsten Jahren die Kinder- und Enkelkindergeneration der Flüchtlinge haben müssen.
  6. Die Politische Situation mit eventuellen Regierungsparteien wie der AFD, breiter gesellschaftlicher Rechtspopulismus (siehe u.a. verschiedene UnternehmerInnen Ostsachsens etc.), B96 Proteste gegen Corona-Verordnungen etc. sollten eine gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit und Aktivität für eine demokratisches Miteinander sowie eine (finanzielle) Stärkung der demokratischen Strukturen in den Fokus rücken.
  7. Aktive Vereine und Institutionen, die für ein „buntes“, interkulturelles Miteinander eintreten und perspektivisch eine mittelfristig sichere Finanzierung anstreben, legen ihr Augenmerk auf Projektfinanzierungen aus Bundes- bzw. Europäischen Mitteln.

Marika Vetter

diakonie-st-martin.de

Dieser Artikel gehört zum Arbeitstisch 4 des Fachtages Flüchtlingssozialarbeit auf dem Weg der Integration von Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund– Entwicklungen, Positionierungen, (Heraus)Forderungen (2020):

Aktuelle Entwicklungen von Zielgruppen und Aufgaben der FSA im Kontext von Integration

Diesen Artikel finden Sie in der Dokumentation des Fachtages:

Flüchtlingssozialarbeit auf dem Weg der Integration von Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund– Entwicklungen, Positionierungen, (Heraus)Forderungen” (2020)

Für eine kostenlose Druckversion schreiben Sie an info@lafast-sachsen.net


Andere Onlineartikel von Fachtagen lesen