Vorstellung der Ergebnisse der Geflüchtetenbefragung aus dem Jahr 2019

von Claudia Jerzak und Dorit Starke Projekt „Wissenschaftliche Begleitung der FSA in Sachsen“, ehs

Dieser Artikel ist Teil 1 des Vortrags:
Vorstellung aktueller Ergebnisse des Forschungsprojektes, vor allem aus durchgeführten Interviews mit Menschen mit Fluchterfahrung sowie erste Erkenntnisse der sachsenweiten Befragung der FSA


Wir, das Team der „Wissenschaftlichen Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen“, führten vorwiegend im Jahr 2019 Interviews mit 21 Geflüchteten durch. Wir entschieden uns für eine qualitative Forschungsmethode und wählten dazu die Form eines explorativen Leitfaden-Interviews.

Im Fokus von FSA können nur Handlungsansätze des Empowerments und der Partizipation stehen um die Zielgruppe in ein selbstbestimmtes Leben zu entlassen. Somit fragten wir gezielt die Adressat*innen nach ihren Bedarfen, Ressourcen und Handlungsstrategien, um ihre Erfahrungen und Anregungen in die professionelle FSA einfließen zu lassen. Bei dieser Befragung ging es uns vor allem darum, die Perspektiven von Geflüchteten auf ihre Handlungsfähigkeit in der kritischen Lebenskonstellation, als Flüchtling im ländlichen Raum in Sachsen, zu rekonstruieren und darzustellen.


1. Repräsentant*innen der Zielgruppe

Die Heterogenität der Zielgruppen der FSA sollte abgebildet werden. Von den 21 befragten Personen sind neun weiblich und zwölf männlich. Der Altersdurchschnitt liegt bei 33,1 Jahren. Die Interviewten kommen aus sechs verschiedenen Herkunftsländern. Zum Zeitpunkt der Befragung konnten die interviewten Personen auf eine durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Deutschland von 32 Monaten zurückschauen. 15 von den 21 Befragten haben zum Zeitpunkt des Interviews eine Aufenthaltserlaubnis. Vier Menschen hatten eine Aufenthaltsgestattung, eine Person lebt in Duldung. Eine Person kann als Sonderfall bezeichnet werden, da sie und ihrer Familie bereits in einem anderen EU-Staat (Griechenland) ein Aufenthaltstitel erhielten. Da dort insgesamt die Situation von anerkannten Flüchtlingen sehr schlecht ist, reiste der Befragte mit seiner Familie nach Deutschland weiter.


2. Situation in Deutschland

Die Interviewpartner*innen stellten uns ihre Wahrnehmung ihrer Situation in Deutschland vor. Hierbei werden einige für uns alltägliche Werte als sehr positiv hervorgehoben, andere werden als negativ beschrieben.

2.1. Was wird positiv wahrgenommen

2.1.1. Freiheit und Gleichberechtigung

Viele Geflüchtete, welche aus Ländern kommen, in denen ihre Grundrechte eingeschränkt sind, benennen die Freiheit und Gleichberechtigung in Deutschland deutlich als gut.

Sehr positiv wird die Umsetzung von Grundrechten bewertet. Eine Interviewpartnerin zieht den Vergleich zu ihrem Herkunftsland:

„Die Leute im Iran sind im Gefängnis. Die leben, aber die sind im Gefängnis. Die leben (wie in einem) Gefängnis […] Aber hier in Deutschland gibt es Freiheit, auch die Frauen können selber entscheiden.“ (IG 18)[1]

In einem Interview wird der gesetzliche Schutz gegenüber Homosexuellen und wie die Menschen dies respektieren, wie der Staat gegen Diskriminierung vorgeht, gelobt.

2.1.2. Soziale Absicherung

Von den Befragten wird das Sozialsystem grundsätzlich als ein positives bewertet.

Ein Befragter äußert sich erstaunt, dass er und seine Familie so viel Geld (ALG II) ausgezahlt bekommen, die Miete übernommen wird, Gutscheine ausgestellt werden und der Kita-Beitrag erlassen wird[2]. Die soziale und medizinische Absicherung in Deutschland wird mit einer stabilen Wirtschaft assoziiert. Armut und Straßenkinder seien in der Öffentlichkeit kaum sichtbar, so ein Befragter.

Ein Befragter aus dem Iran benennt die Übernahme der Kosten für die Ausbildung und ist dem deutschen Staat dankbar, in seine berufliche Zukunft zu investieren:

„… sie bezahlen für meine Schule, wo ich lernen kann. Man muss sich bedanken, denke ich. Aber natürlich ist es nicht genug. (…) Aber man kann vielleicht wirklich eine Basis, ein Fundament aufbauen.“(IG 9)[3]

2.2 Was wird negativ benannt

Neben diesen positiven Bezugnahmen auf zentrale Merkmale des gesellschaftlichen Systems im Aufnahmeland Deutschland werden aber durchaus einige Aspekte thematisiert, die persönlichen als einschränkend oder verwirrend erfahren werden.

2.2.1. Fremdbestimmung

Für Menschen, die sich im Asylverfahren befinden oder mit einer Duldung leben, sind verschiedene Grundrechte eingeschränkt. Sechs Interviewte befanden sich zum Zeitpunkt der Befragung in dieser Situation und beschreiben es als sehr belastend, nicht über das eigene Leben entscheiden zu können, nicht planen zu können und abhängig von anderen Instanzen zu sein. So erklärt ein Befragter:

„Hier ist alles besser, aber das Problem ist für mich: keine Freiheit. Wenn ich eine andere Arbeit machen möchte, brauche ich die Erlaubnis von der Ausländerbehörde. Wenn ich selber in eine Wohnung möchte, brauche ich die Erlaubnis von der Ausländerbehörde. Ich kann nicht selber eine Wohnung, (ich kann nicht arbeiten) […] Was ist Freiheit? Ich kann sitzen im Park an der Straße (…), spazieren. Das ist nicht Freiheit. Ich möchte (meine, eine) (gute Zukunft).“ (IG 6)[4]

Das Gefühl, über viele Angelegenheiten des Lebens entscheide eine Behörde, wurde mehrmals geäußert. Die Einschränkungen der persönlichen Freiheiten werden als sehr belastend wahrgenommen. Ein konkretes Beispiel für die Fremdbestimmung von Asylsuchenden und Geduldeten ist die behördliche Zuweisung der Unterbringung. Gerade die Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft wird überwiegend als belastend beschrieben. Von einer Heimunterbringung hatten die Befragten im Vorfeld keine Vorstellung.

2.2.2. Bürokratie / undurchschaubare Strukturen

Die deutsche Bürokratie, die vielen Anträge und verschiedenen Ämter, werden als sehr negativ empfunden. So wird zum Beispiel Unverständnis darüber geäußert, dass an der einen Stelle bestimmte Anliegen nicht bearbeitet werden.

„Ich kann nicht verstehen, warum die Menschen da sind. Die Menschen sind im Amt (…) dann will ich was, (die wissen das nicht).“ (IG 12)[5]

Gerade in der Ankommensphase – sei es in der ersten Zeit in Deutschland, aber auch nach einem Wohnortwechsel -, scheinen die bürokratischen Strukturen und Zuständigkeiten undurchsichtig. Auch haupt- und ehrenamtlichen Strukturen können viele Geflüchtete schwer unterscheiden, somit auch nicht zwischen verschiedenen Aufgaben und ihren Handlungslogiken.

2.2.3. Unterbringung im ländlichen Raum

Viele der von uns befragten Geflüchtete haben in ihrer Heimat in großen Städten gewohnt und kennen somit ländliches Leben nicht. Hinzu kommen strukturellen Bedingungen der Aufnahmegesellschaft im ländlichen Raum, deren spezifische Bedingungen, die die Ankunft und die Eingewöhnung erschweren und die weiteren Perspektiven einschränken. Schon für die alteingesessene Bevölkerung sind diese spezifischen strukturellen Bedingungen herausfordernd, Geflüchtete treffen diese aber mit besonderer Härte.

a) Mangelnde Verkehrsanbindung

Gerade im ländlichen Raum wird der öffentliche Nahverkehr als unzureichend wahrgenommen. Haltestellen sind weit entfernt und Wartezeiten für Anschlussreisen lang.

b) Unterbringung in Gemeinschaftsunterkunft

Gerade im ländlichen Raum, aber auch in Städten, bedeutet die Unterbringung in einer GU oft, an einem Wohnort außerhalb eines Ortes und seiner Infrastruktur zu leben, und somit wird eine Teilhabe am sozialen und/oder kulturellen Leben erschwert.

2.2.4. Häufiger Wohnortwechsel

Ebenfalls wird ein häufiger Wohnungswechsel als negativ empfunden. Die Befragten lebten seit ihrem Aufenthalt in Deutschland zwischen zwei und sieben Wohnorten. Einen Zusammenhang zwischen Aufenthaltsdauer in Deutschland und der Anzahl der Umverteilungen konnten wir nicht erkennen. So wurden zwei Befragte als familiäre Einheit innerhalb von 18 Monaten bereits sieben verschiedenen Orten zugewiesen.

Diese für die Befragten als große Belastung wahrgenommene Situation lässt sie an keinem Ort wirklich ankommen und erfordert am darauffolgenden Wohnorten stets eine erneute Orientierung.

Projekt „Wissenschaftliche Begleitung der FSA in Sachsen“, ehs

3. Reflexionen der Befragten zum Integrationsbegriff und subjektive Einschätzung der eigenen Integration

Da der Integrationsbegriff im Projektthema zentral ist, war es von Interesse, ihn auch aus der Wahrnehmung der Geflüchteten zu rekonstruieren.

In den leitfadengestützten Interviews wurden die Befragten gebeten, ihre Meinung zum Thema Integration dazustellen:

  • Haben sie von der politischen Debatte gehört?
  • Was denken sie darüber und über den Begriff selbst?
  • Wie schätzen sie die eigene Integration ein?

3.1. Der Integrationsbegriff

Fast alle Interviewten hatten bereits von der Integrationsdebatte gehört und sich mehr oder weniger eine Meinung dazu gebildet.

Die Aussagen zum Integrationsbegriff enthalten drei Aspekte:

a) Integration bedeutet Eingliederung in die deutsche Gesellschaft und ein selbstständiges, unabhängiges Leben führen können

Mehrfach wurde benannt, Integriert-Sein bedeute, für das alltägliche Leben nicht mehr auf fremde Hilfe und Unterstützung angewiesen zu sein. Man sei dann angekommen bzw. integriert, wenn man sein Leben wie alle anderen selbst regeln könne.

Als Integrationsindikatoren wurden angegeben:

  • einen deutschen Abschluss zu haben,
  • mit ‚Deutschen‘ zu arbeiten,
  • einen deutschen Freundeskreis zu haben
  • und als Voraussetzung dafür die deutsche Sprache zu sprechen.

b) Integration bedeutet subjektive Zufriedenheit mit der Partizipation an der Gesellschaft

Mehrere Befragte umschreiben Integrationserfolge vorrangig als positive Gefühle in Bezug auf Teilhabe an der Gesellschaft: es fühle sich gut an, wenn es gelänge, sich mit Deutsch verständlich zu machen und umgekehrt, verschiedene Vorgänge verstehen und damit an verschiedenen Bereichen des Lebens partizipieren zu können.

c) Integration bedeutet respektvolle (Ver-)Bindungen in und zu der Gesellschaft haben

Unter „integriert-sein“ kann ebenso verstanden werden, dass eine (Ver-)Bindung zur Aufnahmegesellschaft hergestellt werden konnte. Hiermit könnte die identifikative Integration gemeint sein in dem Sinne, dass Migrant*innen ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln. Die Voraussetzung für solch ein „Verbinden“ sei vor allem gegenseitiger Respekt – das wurde explizit in verschiedenen Interviews so benannt.

3.2. Die Einschätzung der eigenen Integration

Ein größerer Teil der Befragten fühlt sich bereits gut integriert oder auf einem guten Weg. Dies ist vor allem der Fall, wenn die Personen bereits einen Aufenthaltstitel haben und nicht mit einer Duldung leben müssen.

Ein weiterer wichtiger Faktor für eine positive Wahrnehmung der eigenen Integration scheint das Vorhandensein positiver oder wohlwollender Kontakte mit den anwohnenden Menschen, also die soziale Integration in der Interaktion mit z.B. Nachbar*innen zu sein. In manchen Fällen wurde das Gefühl, auf einem guten Weg zu sein auch einfach mit der Abwesenheit von Problemen im Wohnumfeld und mit der dann eingetretenen Zufriedenheit begründet.

3.3. Integration und Identität

Herausgestellt wird von mehreren Befragten auch, dass Integration in Deutschland und Identität getrennt betrachtet werden müssten. Integration könne stattfinden, ohne die eigene (kulturelle, religiöse o.a.) Identität aufzugeben.

3.4. Faktoren, die Integration erschweren

Integration wird auch von Geflüchteten zwar immer wieder gefordert, aber die Bedingungen dafür werden nur langsam oder gar nicht verändert. Eine einseitige Erwartungshaltung hinsichtlich von Integrationsbemühungen demotiviert die Angekommenen. Es ist unfair für sie, allein ihnen die Verantwortung dafür, dass „es gut läuft“, aufzubürden.

Integration braucht Zeit und lässt sich nicht ad hoc erreichen.

Faktoren, die die Integration dagegen fördern:

  • sind deutsche Freunde als Unterstützer*innen und soziale Kontakte,
  • Arbeitsverhältnisse – Arbeitsverhältnisse bieten aus Sicht der Interviewpartner*innen hervorragende Integrationsmöglichkeiten in Bezug auf zwischenmenschliche Kontakte, Spracherwerb und Bildung und damit für die persönliche Zufriedenheit.
  • Lebensperspektiven sowie
  • gute Sprachkenntnisse.

Erschwert wird der Integrationsprozess durch selbst erfahrene Restriktionen, vor allem in Form von Arbeitsverboten.

3.5. Ergebnis

Zusammengefasst bedeutet Integration in den Augen der befragten Menschen mit Fluchterfahrung, an der Gesellschaft teilhaben, in Institutionen partizipieren zu können und eine auf gegenseitigen Respekt gegründete Verbindung zu Teilen der Gesellschaft aufzubauen. Positive Reaktionen auf Interesse und Bemühungen der geflüchteten Menschen erzeugen das Gefühl, erwünscht und auf einem guten Weg der Integration zu sein.

Integration bedeutet auch, „deutsche“ Gewohnheiten anzunehmen. Integration bedeutet aber nicht, die eigene Identität dabei aufgeben zu müssen.


4. Warum Geflüchtete im Sozialraum bleiben oder wegziehen wollen

Die vorrangigen Gründe dafür, dass Menschen in den ländlichen Räumen bleiben möchten, sind gute Kontakte zu Nachbar*innen und Anwohner*innen sowie die ruhigere Wohnumgebung, in der die Kinder frei spielen können. Auch die kurzen Wege zu Ämtern und Beratungseinrichtungen werden geschätzt. Vorteilhaft scheint es, in einer Kleinstadt in unmittelbarer Nähe einer Großstadt mit einem guten ÖPNV-Anschluss zu wohnen, da dann die Vorteile der Großstadt mit den Vorteilen der Kleinstadt kombiniert werden können. Andererseits möchten viele der befragten Menschen die ländlichen Räume verlassen, wenn es dort keine Arbeitsmöglichkeiten oder Sprachkurse sowie keine Möglichkeiten der Freizeitgestaltung für sie gibt. Dies ist vor allem der Fall, wenn die Region suboptimal mit ÖPNV versorgt ist, denn dann können auch keine Angebote in anderen Städten wahrgenommen werden. Außerdem führen Ausschlusserfahrungen sowie Erfahrungen mit unfreundlichen Nachbar*innen zu dem Wunsch, in der Anonymität untertauchen zu können und deshalb in eine größere Stadt, oder gleich nach Westdeutschland zu ziehen.


Claudia Jerzak und Dorit Starke

Dieser Artikel gehört zum Vortrag des Fachtages Flüchtlingssozialarbeit auf dem Weg der Integration von Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund– Entwicklungen, Positionierungen, (Heraus)Forderungen (2020):

Vorstellung aktueller Ergebnisse des Forschungsprojektes, vor allem aus durchgeführten Interviews mit Menschen mit Fluchterfahrung sowie erste Erkenntnisse der sachsenweiten Befragung der FSA

Teil 1: Vorstellung der Ergebnisse der Geflüchtetenbefragung aus dem Jahr 2019
Teil 2: Befragung zur Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen 2020 – Erste Ergebnisse

Diesen Artikel finden Sie in der Dokumentation des Fachtages:

Flüchtlingssozialarbeit auf dem Weg der Integration von Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund– Entwicklungen, Positionierungen, (Heraus)Forderungen” (2020)

Für eine kostenlose Druckversion schreiben Sie an info@lafast-sachsen.net

[1] Marion Gemende, Claudia Jerzak, Margit Lehr, Marianne Sand, Bernhard Wagner: Abschlussbericht 2018/2019 zum Projekt „Wissenschaftliche Begleitung der Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen –Zusammenarbeit in Integrationsnetzwerken im ländlichen Raum“. 2020, S. 7.

[2] Vgl. Ebd.

[3] Ebd.

[4] Ebd. S. 8.

[5] Ebd.


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